Der Junge, der zu viel fühlte

Wie ein weltbekannter Hirnforscher und sein Sohn unser Bild von Autisten für immer verändern
216 Seiten, Hardcover
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ISBN 9783958902299
Erscheinungsdatum 21.09.2018
Genre Belletristik/Romanhafte Biografien
Verlag Europa Verlage
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Kurzbeschreibung des Verlags

EIN BUCH, DAS UNSEREN BLICK AUF AUTISTEN VERÄNDERN WIRD

Als Henry Markram ein autistisches Kind bekam, zählte er zu den berühmtesten Hirnforschern der Welt. Er arbeitete am Weizmann-Institut und am Max-Planck-Institut, gewann zahlreiche Forschungspreise und hielt Vorträge auf der ganzen Welt. Seine Methode, die misst, wie Zellen sich vernetzen, wurde internationaler Standard. Doch dann kam Kai. Und Fragen und Sorgen lagen auf einmal im Kinderzimmer, zwischen Teddybär und Mondlampe. Markrams geachtete Aufsätze vermochten seinem Sohn weniger zu helfen als das Liederbuch, aus dem er ihm abends vorsang. Und so stürzte sich der Hirnforscher auf die Frage, was Autismus wirklich ist. Nach Jahren gelang ihm der Durchbruch. Und seine Antworten stellten alles auf den Kopf, was man über Autismus zu wissen glaubte.

Autisten fehle es an Empathie, sie hätten kaum Gefühle, hieß es in Expertenkreisen. Nach jahrelanger Beschäftigung mit der Störung seines Sohnes ist Markram vom Gegenteil überzeugt: Kai fühlt nicht zu wenig, er fühlt zu viel. Seine Sinne, sein Hören, Fühlen und Sehen sind zu fein für diese Welt. Er muss sich zurückziehen, um sich vor dem Übermaß an Eindrücken zu schützen. Eine Theorie, die immer mehr Anhänger findet. Über Monate hinweg hat Journalist Lorenz Wagner die Familie Markram begleitet und erzählt in »Der Junge, der zu viel fühlte« eine berührende Vater-Sohn-Geschichte. Zugleich taucht er ein in die Forschung des Vaters und vermittelt anschaulich dessen bahnbrechende Erkenntnisse über Autismus und bisher unbekannte Seiten des menschlichen Gehirns. Ein faszinierendes Buch, das uns Autisten mit völlig anderen Augen sehen lässt.

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ISBN 9783958902299
Erscheinungsdatum 21.09.2018
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FALTER-Rezension

Autisten haben nicht zu wenige Gefühle

Andreas Kremla in FALTER 41/2018 vom 10.10.2018 (S. 48)

Autismus: Hans Asperger und Henry Makram: Die gegensätzlichen Pole der Autismusforschung erhalten Monografien

Autismus, das ist doch die Krankheit, wo die Empathie fehlt – oder? Zwei Werke zeigen die fragwürdige Geschichte der Diagnose – und dass Autisten ganz anders ticken könnten, als wir bisher geglaubt haben. Das in der Nazizeit erstmals beschriebene Asperger-Syndrom ist die bis heute gängige Diagnose für jene Form des Autismus, bei der Kommunikation und soziale Interaktion gestört sind, die Intelligenz aber unbeeinträchtigt bleibt und oft in einzelnen Bereichen hoch ausgeprägt ist.

Wer aber war Hans Asperger? Dieser Frage geht die Historikerin Edith Sheffer nach. Während die Einstufung der von ihm beschriebenen leichten Form des Autismus als Krankheit heute umstritten ist, war sie zu Zeiten, als der Wiener Arzt Karriere machte, ein Todesurteil. An „Schwachsinn“ oder „Missbildungen aller Art“ leidende Kinder sollten frühzeitig erkannt und gemeldet werden. Um nicht den Genpool der „Volksgemeinschaft“ zu bedrohen, wurden sie in sogenannten „Kinderfachabteilungen“ getötet. Deren Realität schildert die Autorin noch grausamer als weithin bekannt: „In den Euthanasiezentren erhielten Ärzte und Krankenschwestern Gehaltsboni und Zusatzleistungen für jedes getötete Kind.“

Edith Sheffer, Historikerin am Europe Center der Stanford University, hat sich in ihrem letzten Buch an der Entstehungsgeschichte des Eisernen Vorhangs abgearbeitet („Burned Bridge: How East and West Germans Made the Iron Curtain“, 2012). Mit „Aspergers Kinder“ rollt sie einen Kriminalfall auf. Hans Asperger (1906–1980) leitete die heilpädagogische Abteilung der Wiener Universitäts-Kinderklinik. Wie eng der später vollständig rehabilitierte Kinderarzt mit den Todeskliniken zusammenarbeitete, ist erst seit kurzer Zeit bekannt. Mittlerweile ist belegt, dass der aufstrebende Arzt direkt an die berüchtigte Jugendfürsorgeanstalt am Spiegelgrund überwies – in vollem Wissen, was seinen Schützlingen dort blühte.

Sheffers Anklageschrift ist zugleich die Geschichte einer Diagnose und die eines Medizinbetriebs, in dem Ärzte groß werden konnten, deren Wirken den Hippokratischen Eid verhöhnte. Das von Anhängern Aspergers gezeichnete Bild eines Nazigegners und Beschützers regimekritischer Ärzte bröckelt hier rasch und weicht dem eines eher unscheinbaren, wenig beseelten Karrieristen ohne moralische Bedenken.

Hans Asperger war keiner der unmittelbaren Vollstrecker, er war einer, der als Mitläufer überlebte und damit zum Arbeitsvorbereiter der Tötungsmaschinerie wurde. Die Ergebnisse ihrer akribischen Recherche stellt die Autorin äußerst detailreich dar. Gerade durch die Präzision entsteht Spannung – und Grauen. Sheffer lässt die Diagnose „Asperger“ als ein schauriges Gespenst aus einer menschenverachtenden Zeit erscheinen.

Möglicherweise irrten Asperger und Kollegen nicht nur moralisch, sondern auch fachlich. Denn was wir über Autismus zu wissen glauben, ist zum großen Teil falsch. Das behauptet zumindest Henry Markram. Nach den Erkenntnissen des Hirnforschers ist unser bisheriges Verständnis der Krankheit das Negativ des tatsächlichen Bildes: Autisten empfinden nicht zu wenig, sondern zu viel. Wie er zu dieser Behauptung kam, verfolgt der Reporter Lorenz Wagner.

„Sie können sich nicht in andere hineinversetzen. Sie interessieren sich kaum für andere“ – das hatte der 1962 in Südafrika geborene Markram in seinem Studium der Medizin und Neurophysiologie über Autisten gelernt, geglaubt und am israelischen Weizmann-Institut gelehrt. Bis sein Sohn Kai deutliche Autismus-Symptome zeigte. Die bekannten Modelle halfen aber nicht: weder um als Fachmann Kais Verhalten zu erklären noch um als Vater seinen Sohn zu fördern. So nahm Markram die Sache selbst in die Hand – in großem Stil.

Lorenz Wagner begleitet seine Jagd nach dem Phantom Autismus. Nachdem er sich schon als Chefreporter der Financial Times Deutschland einen Namen gemacht hatte, ist er heute beim SZ-Magazin für Reportage und Porträts zuständig. Sein dort erschienenes Porträt von Henry und Kai Markram zählt zu den erfolgreichsten Artikeln, die das Magazin je publizierte. Nun ist seine Geschichte zweier Leben und eines Lebenswerks im Buchformat erschienen.

Er erzählt, wie hoch Henry Makram pokerte, um im Forschungsgeld-Dschungel die Gelder aufzustellen, bis er schließlich zum Vater des Human Brain Project wurde, eines der größten Forschungsprojekte, das die EU jemals gefördert hat. Er interviewt Makram und seine zweite Frau Kamilla, die mit ihm gemeinsam forscht. Sogar die sperrigen Laborversuche kann er plastisch nachvollziehbar machen. Hautnah schildert er etwa, wie eine von Markrams Mitarbeiterinnen an dem Tag, an dem sie ihren Job aufgeben wollte, es doch noch einmal probierte. Nach zwei Jahren fruchtloser Arbeit an jenen Gehirnzellen, die für die Hemmungen der autistischen Ratten verantwortlich gemacht wurden, gibt sie sich eine letzte Chance – und untersucht aus keinem vernünftigen Grund deren Gegenspieler, verstärkende Zellen.

„Sie stand da, alleine in ihrem Labor, und stach die Pipette hinein (…) und konnte kaum glauben, was sie durch ihr Mikroskop sah. Diese Verstärkerzellen empfanden die Reize doppelt so stark, sie redeten mehr miteinander, sie schnatterten richtig.“ Die verstärkenden Zellen autistischer Ratten sendeten ein Signalfeuerwerk, doppelt so schnell wie die Zellen normaler Ratten. Damit war der Durchbruch geschafft und alles ganz anders als gedacht: nämlich genau umgekehrt.

Am vorläufigen Ende der Forschungen der Markrams steht die „Intense World Theory of Autism“: Nicht weil ihnen etwas fehlt, sind Autisten gezwungen, Reize zu reduzieren, sich zurückzuziehen und die Welt durch Rituale zu ordnen, sondern weil von allem zu viel da ist. Diese Erkenntnis führt zu einem gänzlich anderen Umgang mit der Krankheit: Autisten müssen keinesfalls angeregt werden, wie man bisher meinte, sondern man muss sie vor zu viel Anregung schützen. Noch ist die Theorie Gegenstand von Debatten. Und doch gelten die Arbeiten der Markrams vielen als das Beste, das die Autismusforschung heute zu bieten hat.

Nicht zuletzt können sie auch sehr gut erklären, warum wir in unserer heute oft reizüberfluteten Welt wesentlich häufiger Autismus-Diagnosen begegnen als noch vor 50 Jahren. Am Ende dieser fulminanten Reportage hat man sowohl eine außergewöhnliche Familiengeschichte mitverfolgt als auch die hartnäckige, mühselige, aber höchst lebendige Jagd nach echtem Wissen. Und man nimmt eine zutiefst menschliche Erkenntnis mit: wie viel es für Betroffene bedeutet, ihre Krankheit zu verstehen – auch wenn sie niemand heilen kann.

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