Zivilisierte Verachtung
Ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall ist klar, dass das Ende der Geschichte weiterhin auf sich warten lässt. Stattdessen wirft ein anderes Ereignis aus dem Jahr 1989 lange Schatten: 26 Jahre nach der Fatwa gegen Salman Rushdie stellt uns der Anschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" einmal mehr vor die Frage, wie der Westen selbstbewusst für seine Werte eintreten kann – ob nun gegen Fundamentalisten, Populisten oder die antiwestliche Rhetorik eines Wladimir Putin. Während viele Linke und Liberale durch die Logik der politischen Korrektheit gleichsam gelähmt sind, schwingen sich Figuren wie Marine le Pen und Bewegungen wie Pegida zu Verteidigern des Abendlandes auf. In dieser Situation plädiert Carlo Strenger für eine Haltung der zivilisierten Verachtung, mit der das aufklärerische Toleranzprinzip wieder vom Kopf auf die Füße gestellt wird: Anstatt jede Glaubens- und Lebensform zu respektieren und diskursiv mit Samthandschuhen anzufassen, müssen wir uns daran erinnern, dass nichts und niemand gegen wohlbegründete Kritik gefeit sein darf: »Wenn andere Kulturen nicht kritisiert werden dürfen, kann man die eigene nicht verteidigen.«
Verteidigung der Freiheit
Die westlichen Grundwerte sind bedroht, doch vom Imperativ der politischen Korrektheit gelähmt, respektieren viele, was sie mit guten Argumenten als irrational, unmoralisch oder gar unmenschlich kritisieren sollten. Ein klassisches Eigentor, meint Carlo Strenger, Professor für Philosophie und Psychologie an der Universität Tel Aviv, der auch in der Terrorismusforschung arbeitet. Eine zusätzliche Gefahr sieht er in der Instrumentalisierung der Situation durch Rechtspopulisten. Wie sollen wir darauf reagieren? Mit einer zivilisierten Verachtung, meint Strenger, ohne zu hassen oder zu dehumanisieren. Gemäß dem Toleranzprinzip der Aufklärung soll das Individuum geschützt werden, nicht der Glaube. Dazu braucht es verantwortliche Meinungsbildung sowie die Kompetenz, mit Kränkungen umgehen zu können.
Juliane Fischer in Falter 16/2015 vom 17.04.2015 (S. 22)
Reihe | edition suhrkamp |
---|---|
ISBN | 9783518074411 |
Ausgabe | Originalausgabe |
Erscheinungsdatum | 21.03.2015 |
Umfang | 104 Seiten |
Genre | Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft |
Format | Taschenbuch |
Verlag | Suhrkamp |