

Ein Vater der Türkei und sein toxisches Erbe
Yavuz Köse in FALTER 8/2021 vom 26.02.2021 (S. 21)
Hans-Lukas Kieser legt eine politische Biografie über Talât Pascha vor, der bisher vor allem als Hauptverantwortlicher des Genozids an den Armeniern bekannt war. Bereits im Titel der Studie wird aber klar, dass er zudem als „Gründer der modernen Türkei“ gesetzt ist. Und damit durchkreuzt Kieser das gängige Narrativ, wonach üblicherweise nur Mustafa Kemal Atatürk diese Rolle zukommt; um dies für alle Zeiten festzuhalten, hatte dieser 1934 von der türkischen Nationalversammlung den gesetzlich geschützten Nachnamen Atatürk („Vater der Türken“) erhalten.
Mehmed Talât, der als einfacher Postbeamter ohne Schulabschluss arbeitete, avancierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum führenden Mitglied des jungtürkischen Komitees für Einheit und Fortschritt (KEF), das zahlreiche ethno-religiöse Gruppen in ihrer Opposition gegen die despotische Herrschaft Sultan Abdülhamids II. vereinigte. Das KEF führte auch die sogenannte Jungtürkische Revolution von 1908 an.
Talât war nach Kieser der Wegbereiter und Vater einer „nachosmanischen Türkei mit einem radikal nationalistischen, aber undemokratischen Fundament“. Anders als Talât baute der Gründer der Republik Türkei, Kemal Atatürk, nicht mehr auf den politischen Islam als Instrument seiner massiven kulturrevolutionären Umwälzungen. Freilich verschwand der Faktor politischer Islam nie aus der kemalistischen Türkei. Damit liegt die Notwendigkeit, sich mit Talât Pascha eingehender zu befassen, auf der Hand, umso mehr, als bis heute keine wissenschaftlich fundierte biografische Studie in westlicher Sprache über ihn existierte.
Während des Zweiten Balkankriegs putschten sich die Jungtürken unter Führung von Talât Pascha im Februar 1913 an die Macht und führten das Osmanische Reich an der Seite des Deutschen Reiches in den Ersten Weltkrieg. Ziel war nicht (mehr), den Vielvölkerstaat zu retten, sondern einen homogenisierten türkisch-muslimischen Staat in Anatolien zu schaffen. Unter willfähriger Duldung der Deutschen konnte Talât dies als den „nationalen Überlebenskampf“ gegen die Armenier stilisieren. Kieser zeichnet quellenreich nach, dass Talât Organisator und Architekt eines Zerstörungsprojekts war, an dem „nationale, regionale und lokale Instanzen“ bereitwillig partizipierten und in Teilen profitierten.
Die Deportation, Vertreibung, Zwangskonvertierung zum Islam, die Zerstörung ihrer kulturellen, wirtschaftlichen und materiellen Güter und schließlich die Vernichtung zu Hunderttausenden (800.000–1.000.000) war in Form und Dimension ein einmaliges Vorgehen für den Ersten Weltkrieg. Kieser kommt das Verdienst zu, das Osmanische Reich am Vorabend des Ersten Weltkriegs als Faktor und Akteur von der Peripherie ins Zentrum europäischer Geschichte zu rücken. Sicher muss man ihm nicht folgen, in Talât den „Vater der Türken“ avant la lettre zu sehen. Und ob er tatsächlich „das Zeitalter der Extreme eröffnet und einem Europa der Diktatoren bereitet“ hat, wird sicher diskutiert werden.
Gewiss benötigten europäische Kolonialreiche keine Vorbilder wie ihn, um Gewalt zur Durchsetzung politischer oder wirtschaftlicher Interessen zu nutzen. Kieser ist mit dieser politischen Biografie dennoch ein großer Wurf gelungen, ein Buch das – zumal in seiner türkischen Version – dazu anregen sollte, die nationalen Narrative kritisch zu hinterfragen und die Zentralität spätosmanischer politischer Praxis und vor allem des Genozids an den osmanischen Armeniern (und Assyrern) für die Gründung der modernen Türkei zu reflektieren.
Autoritäre, hierarchische und staatszentrierte Strukturen sind das toxische Erbe Talâts und – über alle politischen Lager hinweg – bis heute Teil der politischen Kultur der Türkei, einer Kultur, die, durch die nationalistischen (und zunehmend islamistischen) Haltungen bedingt, eine gewisse „Pluralitätsintoleranz“ befördert und damit den Prozess der Annäherung des Landes an die eigene dunkle Vergangenheit und nicht zuletzt die Demokratie immer wieder
behindert.