

Die Wasserstoffbombe, das Wettrüsten und das Wetter
André Behr in FALTER 41/2013 vom 09.10.2013 (S. 49)
Physik: Eine Biografie von Andrej Sacharow erklärt den sowjetischen Wissenschaftsbetrieb
Die Entwicklung der Kernwaffentechnik hat nicht nur die politische Welt verändert, sondern auch Wissenschaftler, die an diesem System gearbeitet haben. Der prominenteste Protagonist einer solchen Wandlung war sicherlich Andrej Sacharow.
Als hochbegabter russischer Nachwuchsphysiker hatte er ab Ende der 1940er-Jahre der geheimen sowjetischen Forschungsanlage bei Sarow angehört, die den Tarnnamen "Objekt" trug oder oft auch "Arsamas 16" genannt wurde. Vom 1921 geborenen Sacharow stammen mehrere Grundideen, die 1961 zum Bau der größten jemals gezündeten Wasserstoffbombe führten, dann allerdings begann er daran zu zweifeln, ob ein nukleares Gleichgewicht der Großmächte die Welt tatsächlich sicher machen konnte.
Über seine dramatischen Konfrontationen mit Chruschtschow und anderen Machthabern, wie er seine Privilegien als hochangesehener Forscher verlor und in die Verbannung geschickt wurde, weil er sich ebenso unerschrocken wie vehement für Freiheit und Demokratie in seinem Land einsetzte, hatte Andrej Sacharow selbst 1990 ein zweibändiges Werk veröffentlicht.
Nun liegt eine Biografie des russischen Physikers Gennady Gorelik vor, der am Center for History of Physics an der Boston University lehrt und zuvor bereits den wissenschaftlichen Werdegang der bedeutenden Physiker Matwej Bronstein und Lew Landau nachgezeichnet hatte. Das Buch ist der Schriftstellerin und Dissidentin Lydia Tschukowskaja gewidmet, die mit Sacharow in Moskau eng befreundet war.
Gorelik begann über Sacharow, den er als Student noch selbst gehört hatte, zu recherchieren, als er in den 1980er-Jahren Tschukowskaja besuchte. Er führte über Jahrzehnte mehr als 50 Interviews mit Zeitzeugen, Fachkollegen oder Familienangehörigen und sichtete Handschriften akribisch in privaten und öffentlichen Archiven.
Er wollte herausfinden, wie der Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe als theoretischer Physiker zur Leitfigur der Menschenrechtsbewegung in der Sowjetunion und zum ersten Friedensnobelpreisträger Russlands geworden ist.
Entstanden ist keine flüssig lesbare weitere Sacharow-Biografie, dafür eine detailreiche und äußerst instruktive Rekonstruktion des Wissenschaftsbetriebs eines Staates, der reich an brillanten Köpfen war, aber bald nach der Oktoberrevolution in einen totalitären Strudel geriet, dessen Nachhall noch im heutigen Russland spürbar ist.
"Sacharows Los war es", schreibt Gorelik, "dass seine Lebenszeit in das Zeitalter der sowjetischen Zivilisierung Russlands mit all ihren scharfen Kontrasten fiel." Als weitere "Jahrhundertkräfte", die Sacharow als Sohn eines Physiklehrers prägten, nennt Gorelik die russische Intelligenzija sowie die wissenschaftliche Schule Russlands, in der sich viele akademische Lehrer mitten in der Stalin-Diktatur die Freiheit herausnahmen, der Stimme ihres Gewissens zu folgen.
In seiner Rede zur Verleihung des Nobelpreises 1975, die Sacharows Frau Jelena Bonner in Oslo vortrug, schrieb der Preisträger: "Frieden, Fortschritt, Menschenrechte – diese drei Ziele sind untrennbar miteinander verknüpft, keines von ihnen ist erreichbar, setzt man sich über die übrigen hinweg."
Rehabilitiert von Gorbatschow, aber gezeichnet von den fast sieben Jahren Isolation in Gorkij, starb Andrej Sacharow im Dezember 1989 in Moskau, nur zwei Jahre bevor die Sowjetunion aufgelöst wurde.
Auch in den USA gab es namhafte Physiker, die sich nach Hiroshima und Nagasaki vom Kernwaffenprogramm abwandten, etwa Robert Oppenheimer, einst Chef in Los Alamos, oder Hans Bethe, der dort die Theorieabteilung geleitet hatte. Nur Sacharows Pendant Edward Teller, der bei Heisenberg promoviert hatte und 1935 in die USA emigriert war, hat die Wasserstoffbombe zeitlebens als Garant für die Sicherheit verteidigt.
In einem der letzten Interviews vor seinem Tod 2003 freilich sprach der gebürtige Ungar in seiner Wohnung in Stanford überraschend auch von einer anderen Vision für den Weltfrieden: einer internationalen Kooperation zum Aufbau eines weltumspannenden Netzes von Wetterstationen.