

Häuser entstehen aus Bedürfnissen
Maik Novotny in FALTER 41/2019 vom 11.10.2019 (S. 50)
Architektur: Eine faszinierende Reise um die Welt zu traditionellen, ressourcenschonenden Bauweisen
Es ist schon schwierig mit der Tradition. Gerade in diesen nostalgisch-rückwärtsgewandten Zeiten wird sie oft als plumpe Referenz an ein irgendwie besseres Früher gebraucht. Das gilt erst recht für die Architektur. Von der Glorifizierung der Gründerzeit in Wien bis zur Fake-Rekonstruktion des „typisch deutschen“ Fachwerks in Frankfurt: Mit Tradition gewinnt man garantiert Zuspruch. Dabei ist traditionelles Bauen alles andere als ein in Ewigkeit zementierter Kanon, sondern Ergebnis eines jahrhundertelangen Prozesses, der nie ganz abgeschlossen ist. Es ist eine Schatztruhe des Wissens über oft komplexe Bautechniken, den effektiven Umgang mit Material, über Witterung und lokale Gegebenheiten. Ignoriert man dies und begnügt sich mit Oberfläche und Ornament, führt das zu Auswüchsen wie den Tiroler Betonburgen-Hotels, die mit Versatzstücken wie Sprossenfenster und Holzbalkonen bepickt werden. Tradition als Karikatur.
Tiefer in diese Schatzkiste gegriffen dagegen hat Christian Schittich, langjähriger Chefredakteur der Zeitschrift Detail, in dem von ihm herausgegebenen umfangreichen Band „Traditionelle Bauweisen“. Dieser versammelt Haus-Typologien von Ozeanien bis Oberbayern und ist dabei weit mehr als ein touristisch-oberflächlicher Weltatlas, der das Exotische abfeiert. Stattdessen wird das Traditionelle in Bild, Grundriss und Wort anschaulich analysiert und verständlich gemacht, im Bewusstsein, dass das Wort „traditionell“ in seiner Rückwärtsgewandtheit ein unbefriedigender Hilfsbegriff ist. „Der Begriff vernacular architecture, der das Bauen der einfachen Leute ohne Zuhilfenahme professioneller Planer umreißt, wurde in der englischen Sprache zu einem festen Begriff, während im Deutschen bis heute dafür kein entsprechendes Pendant existiert“, erklärt Schittich im Vorwort. Ob traditionell oder vernakulär, beides hat zu Unrecht den Ruf, unsexy und irgendwie „pauvre“ zu sein. Dabei ist es so ressourcenschonend wie intelligent, oft weit mehr als der Hightech-Zinnober, der heute als „Smart City“ und „Intelligentes Bauen“ verkauft wird. Iranische Windtürme sind optimierte Klimaanlagen, norwegische Grasdächer perfekt gegen Nässe isoliert.
Architektur entsteht nie aus einer Laune heraus oder aus einem „Stil“, sondern aus der Logik des Alltags: Wo steht das Pferd, wo ist die Feuerstelle, wo ist das Wasser, wie bekommt man den Rauch weg und die Frischluft hinein, wie das Licht hinein und die Wärme nicht hinaus? Welche Materialien und Werkzeuge sind vor Ort verfügbar, gibt es Erdbeben, Überflutungen, Monsun? Je genauer man nachliest, desto mehr werden selbst scheinbar vertraute Bauweisen wie Fachwerkhäuser plötzlich genauso komplex und fremdartig wie sibirische Jurten. In manchen Bautypen lassen sich kontinentübergreifende Parallelen aufspüren, andere bleiben faszinierend singulär, wie die Tulous, die meist runden riesigen Festungswohnhäuser, die das Volk der Hakka in Südostchina errichtete und die wie Ufos aus Stein und Holz im Wald stehen.
Am Ende der Reise von Friesland bis zum brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso wird klar: Das Gebaute entsteht aus einem notwendigen Bedürfnis, bis es irgendwann zu Kultur wird. Dann wird das Fachwerk zum Gestaltungselement, die gekalkte Fensterumrandung zum Ornament. Die Bauten in diesem Buch balancieren alle auf dieser Kante zwischen überlebensnotwendiger Technik und Kultur, ein berührendes Zeugnis dessen, was wir Zivilisation nennen. Es ist auch eine Ehrenrettung für Bauweisen, die heute leider oft als „arm“ diskreditiert werden, in manchen Regionen auch von den Bewohnern selbst, die sich stigmatisiert fühlen und lieber in modernen Bauten wohnen, auch wenn diese klimatisch völlig ungeeignet sind.
Nicht zuletzt ist das Buch ein Fest für Freunde sprachlicher Ausdifferenzierung. Wo sonst liest man von dreischiffigen Flettdielenhäusern mit Kammerfach, Eulenlöchern und Muldenfalzziegeln (Norddeutschland), ewenkischen Stangenkegelzelten (Mongolei) oder birnenförmig zugehauenen Hartsteinfäusteln (Jemen)? Eben.