

"Wir können nicht einfach weglaufen"
Tessa Szyszkowitz in FALTER 41/2023 vom 11.10.2023 (S. 14)
Es ist Nacht nach einem langen Tag. Israelis haben mit Grauen verfolgt, wie Zivilistinnen und Zivilisten auf den Straßen malträtiert, verschleppt und getötet wurden. Unter ihnen der israelische Schriftsteller Yishai Sarid. Er meldet sich beim Falter, um ein vor einigen Wochen über sein neues Buch geführtes Videointerview schriftlich weiterzuführen.
Falter: Die Hamas überfällt Israel, nimmt Zivilisten und Soldaten gefangen und verschleppt sie in den Gazastreifen. Israel antwortet mit dem Bombardement des Gazastreifens. Das Land ist im Krieg.
Yishai Sarid: Die Hamas hat Israel barbarisch überfallen. Kinder wurden ermordet, Frauen gekidnappt. Es ist eine herzzerreißende Tragödie. Tel Aviv, wo ich lebe, wurde mit Raketen aus dem Gazastreifen angegriffen. Wir müssen uns verteidigen. In der Folge kommt es zu noch mehr Gewalt und Tod. Das ist eine große Niederlage für Netanjahu, der der extremsten und inkompetentesten Regierung in der israelischen Geschichte vorsteht.
Hat sein Sicherheitsapparat nicht aufgepasst? Wie ist es möglich, dass diese großangelegte Operation nicht entdeckt wurde?
Sarid: Netanjahu trägt die Schuld dafür, dass unsere Gesellschaft so tief gespalten ist. Das hat uns geschwächt. Sie haben uns unvorbereitet erwischt. Viele Israelis mussten deshalb sterben. Netanjahu hat seit Jahren lieber Deals mit der Hamas gemacht als mit der sehr viel moderateren Palästinensischen Autonomiebehörde. Diese Tragödie ist ein Resultat seines Handelns.
Netanjahu ruft Reservisten auf, das Land zu verteidigen. Dieselben Reservisten, die wegen seiner Justizreform gegen ihn demonstrieren.
Sarid: Viele Reservisten, die für die Demokratie Israels in den letzten Monaten auf die Straße gegangen sind, werden jetzt eingezogen. Sie gehen hin. Weil sie Patrioten sind, die ihr Land gegen grausame Feinde verteidigen.
Wie wirkt sich das aus, schweißt der Angriff der Hamas die jüdischen Israelis wieder zusammen?
Sarid: Niemand wird Netanjahu vergeben. Niemand wird vergessen, welche Verantwortung Netanjahu trägt. Und ich bin überzeugt, dass sofort, nachdem der Krieg vorbei ist, die Proteste gegen ihn, seine Regierung und seine Vorstellungen von einer Justizreform noch heftiger sein werden als davor.
Für einen linken israelischen Autor ist diese Lage nicht leicht zu entwirren.
Sarid: Ich bin kein naiver Pazifist. Israel hat Feinde: unter den Palästinensern, die Hisbollah mit dem Iran im Hintergrund. Aber was in den besetzten Gebieten geschieht, ist eine militärische Besatzung, eine reale Unterdrückung und Demütigung der Palästinenser. Die Hilltop Youth, die jungen radikalen Siedler, kann man mit den extremistischen Faschisten aller Welt vergleichen.
Ist der Feind außerhalb oder innerhalb Israels gefährlicher?
Sarid: Es grenzte lange Jahre an ein Wunder, dass in Israel eine blühende Demokratie entstehen konnte -unsere Justiz, die Meinungsfreiheit, alle anderen Freiheiten. Auf lange Sicht sind Demokratien viel erfolgreicher als totalitäre Regime, wie wir sie in den arabischen Nachbarländern haben. Darum ging es bei unserem Protest gegen Netanjahus Justizreform: Wir brauchen die Demokratie, um Israel stark, wohlhabend und frei zu halten -und um in der Lage zu sein, uns vor unseren Feinden zu schützen.
Sie waren selbst in einer Geheimdiensteinheit der Armee. Sind Sie noch im Reservedienst?
Sarid: Ja, ich war vor langer Zeit in einer solchen Einheit. Und nein, ich bin seit zwölf Jahren nicht mehr Reservist.
Sie mussten sich also nicht entscheiden, ob Sie aus Protest gegen die Justizreform nicht mehr zum Reservedienst erscheinen?
Sarid: Ich muss diese Entscheidung nicht treffen, aber viele unserer Familienmitglieder und Freunde sehr wohl. Viele von ihnen sind nicht einmal links. Viele sind politisch moderat eingestellt. Ich komme aus einer sehr politischen Familie. Und viele Jahre standen wir fast allein da. Mein Vater hat das alles vorhergesagt, was kommen wird. Ich bin mir nicht sicher, ob er gewusst hat, dass es so schlimm wird. Aber als wir fast allein waren, da schwieg die moderate Mitte. Das Zentrum schlief, das Zentrum erlaubte den Rechten, das Land in Geiselhaft zu nehmen. Dazu gehören die Frage der besetzten Gebiete, die Frage von Staat und Religion und andere Dinge.
Ihr neuer Roman "Schwachstellen" ist ein bedrückender, dystopischer Roman. Es geht dabei um eine Spionagesoftware, die in Israel entwickelt und von Diktaturen und Regierungen in aller Welt und auch in Israel gegen Kritiker eingesetzt wird.
Sarid: Es ist leider nicht Dystopie, es ist längst Realität. Die dunklen Seiten der Hightech-Welt gibt es bereits in der Wirklichkeit. Ich habe mir die Freiheit genommen, kreativ zu sein und manchmal ein bisschen zu übertreiben. Und natürlich ist die Kernerzählung keine wahre Geschichte. Aber die Basis dafür schon. Es ist möglich, dass die Realität nicht so schlimm ist, weil die Menschen nicht so schlimm sind. Aber darauf können wir uns nicht mehr verlassen.
Schon bisher wurde nicht genug kontrolliert, welche Regierungen israelischen Firmen Software wie Pegasus abkauften. Nach der Justizreform, die von der Regierung unter Benjamin Netanjahu gerade durchgesetzt wird und die Macht der Obersten Richter beschneiden soll, wird der Oberste Gerichtshof vielleicht gar nichts mehr stoppen können.
Sarid: Es wurde vorher schon nicht gestoppt. Die NSO Group, die Pegasus verkauft, hat immer darauf hingewiesen, dass sie die Erlaubnis der israelischen Regierung hatte. Sie hat nicht unabhängig gehandelt. Sie hielt sich an das israelische Gesetz und die israelischen Vorschriften. Es wurden auch einige Petitionen beim Obersten Gerichtshof eingereicht. Man wollte den Verkauf verbieten lassen. Der Oberste Gerichtshof und andere Gerichte haben diese Verbote aber nicht ausgesprochen. Sie sagten: Das ist nicht unsere Entscheidung. Das ist Sache des Verteidigungsministers. Er muss diesen Handel kontrollieren. In meinen Büchern beschäftige ich mich viel mit dem Thema Gewissen. Wie gehen wir selbst damit um? Bisher wird das Oberste Gericht Israels als Hüter des Gewissens und der Moral angesehen.
Sie meinen, es spricht nicht nur Recht, es entscheidet auch über moralische Fragen?
Sarid: Genau. Und vor allem für Menschen in den israelischen Streitkräften oder in diesen Hightech-Firmen, die in einem heiklen Bereich wie zum Beispiel an Spyware arbeiten, ist das ganz wichtig. Der Oberste Gerichtshof gibt ihnen die Lizenz, definiert, was moralisch akzeptabel und in Ordnung ist. Das ist sehr hilfreich. Und es ermöglicht ihnen, sich zurechtzufinden. Deshalb beteiligen sich viele Menschen, die zum Reservedienst einrücken sollten und die sonst im Sicherheitssektor tätig sind, an den Protesten gegen die Justizreform. Diese Befugnisse des Obersten Gerichtshofs sind für sie sehr wichtig.
Ihr Vater Jossi, eine der Galionsfiguren der linken israelischen Szene, schien am Ende gebrochen, weil die Linke nichts mehr zu sagen hatte.
Sarid: Die israelische Linke wurde von zwei Dingen erledigt. Durch die Faszination für Gewalt auf der palästinensischen Seite. Und auf der jüdischen Seite. Der Wunsch nach Frieden wurde ermordet. Zuerst das Massaker an betenden Palästinensern in Hebron 1994, dann die Ermordung von Ministerpräsident Rabin 1995.
Beide Attentate wurden von rechtsextremen israelischen Siedlern verübt.
Sarid: Und dann durch den palästinensischen Terror, der unmittelbar nach dem Oslo-Abkommen begann, und später während der zweiten Intifada ab Oktober 2000. Die Israelis haben die Hoffnung auf Frieden verloren.
Die jüngste Entwicklung stürzt Israel in einen neuen Krieg.
Sarid: Ja. Jetzt geht es darum, uns zu verteidigen. Aber die Proteste haben einiges verändert. Unter den Demonstranten sind die Menschen gewesen, die das Rückgrat von Israels Sicherheitsapparat bilden. Das beste Beispiel dafür sind die Piloten. Piloten waren die loyalsten und patriotischsten Israelis. Wenn Netanjahu die Justizreform weitertreibt, werden sie die Gefolgschaft verweigern. Sie wollen nicht mehr in den Reservedienst eingezogen werden.
Wenn die Regierung, die Armee und der Sicherheitsapparat in Verbindung mit manchen Akteuren in der Hightech-Industrie nicht mehr glaubwürdige Partner für die Bürgerinnen und Bürger sind, steht Israel wirklich vor einer existenziellen Krise. Die Hauptfigur Ihres Buches, der Computertechniker Siv, erinnert an den Staat Israel selbst: clever und scheinbar mächtig, gleichzeitig verletzbar und sehr fragil.
Sarid: So habe ich das selbst noch nicht gesehen. In Israel ist die Sicherheit des Staates zentral. Es ist ein Stück unserer Identität und beruht darauf, was wir in unserer Geschichte durchgemacht haben. Wir dürfen nicht mehr hilflos sein, aber die Notwendigkeit der Stärke wurde zur Besessenheit, zur Sucht. Und heute sind wir abhängig davon. Das ist bei Siv in meinem Roman auch so.
Israelische Schriftsteller können nie über ihre Literatur sprechen, ohne gleich auf die Politik angesprochen zu werden.
Sarid: Wir fühlen uns für alles Schlechte, was hier geschieht, verantwortlich. Wir können die Verbindung nicht trennen. Und: Wir können nicht einfach weglaufen.