

Vom rechten Weg abgekommen
Julia Kospach in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 43)
Wir sind nicht zum Dasein von Kohlköpfen geboren“, schrieb Mary Shelley um 1840 und hatte dabei Reiselust und Umherschweifen im Sinn, die ihr selbst als ureigenste menschliche Grundbedürfnisse galten, wenn es darum ging, sich im Leben und Schreiben dem Neuen, Anderen und Unbekannten zu öffnen. Die britische Autorin, die mit nur 21 Jahren ihren weltberühmten Erstling „Frankenstein“ publizierte und der Literatur das Motiv der von Menschenhand künstlich erschaffenen Kreatur bescherte, führte ein unstetes Leben mit zahlreichen Ortswechseln. Ein „wanderer“ in der damaligen Verwendung des englischen Wortes war Mary Shelley in mehr als nur dieser Hinsicht: Denn „wanderers“, also: „Wanderinnen“, war im 18. und 19. Jahrhundert ein gebräuchlicher Begriff für junge Frauen der besseren Gesellschaft, die es sich wie Mary Shelley herausnahmen, vom sogenannten Pfad der Tugend abzuweichen und eigene Lebensentscheidungen zu treffen: Mit 17 floh Mary romanreif mit ihrem späteren Ehemann, dem Dichter Percy Shelley, aus ihrem Elternhaus gen Italien. Die Flucht markierte zugleich ihren Einstand als Schriftstellerin. Eine monströse Eigenständigkeit für eine junge Frau: Aus patriarchaler Mehrheitssicht war kaum mehr Abweichlerinnentum möglich.
Der Mann gehört der Welt, die Frau dem Haus: so die Geschlechterlogik bis weit in die Gegenwart. Dass das Fluchtbedürfnis junger Frauen wie Mary Shelley vor allem auch mit den Einschränkungen zu tun hatte, unter denen sie zu leben hatten, schien ihre Umgebung nicht weiter in Betracht zu ziehen.
Wohl aber tut das die deutsche Literaturwissenschaftlerin Anneke Lubkowitz in ihrem herausragenden Buch „Rebellinnen zu Fuß“, die darin die Frage stellt: Wie sieht die Geschichte des Wanderns, Flanierens und Naturerlebens, des in Bewegung- und Unterwegsseins – und das Schreiben darüber – aus, wenn sie zur Abwechslung einmal aus weiblicher Sicht erzählt wird?
Ihr ungeheuer akribisch und mit spürbarer Lust recherchiertes Buch ist eine veritable literarische Fundgrube, in der die Autorin aufs Gelungenste persönliche Erfahrungen mit Kultur- und Literaturhistorischem verschränkt. Lubkowitz, die sich in ihren 20ern selbst vom Couchpotato zur passionierten Wanderin gewandelt und eine Dissertation über britisches Nature Writing geschrieben hat, entdeckt zwischen den Zeilen von Gedichten, Briefen, Reisebeschreibungen, Romanen und Manifesten von Frauen zahllose Spuren von deren Wanderlust, Naturerkundungspassion und Gier, sich durch das Abkommen vom Weg ganz neue Wege, Autonomie und Freiheit zu erschließen: Besonders fündig wird sie bei Sophie de La Roche, den Freundinnen Bettina Brentano und Karoline von Günderrode, bei Annette von Droste-Hülshoff, in ihrer Lyrik gedankenreisenden und ins Exil gezwungenen Dichterin Else Lasker-Schüler und der Dada-Mitbegründerin Emmy Hennings, bei Simone de Beauvoir, der dauerreisenden Schweizer Romancière Annemarie Schwarzenbach oder bei der afroamerikanischen Science-Fiction-Autorin Octavia Butler (1947–2006), die sich literarisch auf extraterrestrische Wanderungen begab und im Leben eine unermüdliche Fußgängerin war.
„Du weißt, wie ich das Herumschwärmen von Mädchen in der Welt hasse“, musste sich die junge Bettina Brentano – spätere Bettina von Arnim (1785–1859) – von ihrem Bruder und Vormund sagen lassen, als sie 1807 den Plan fasste, zu Fuß zu Goethe nach Weimar zu wandern. Bei Brentano findet Anneke Lubkowitz unzählige Hinweise, dass für sie das wilde Denken mit und durch den bewegten Körper ihr Ideal darstellte.
Auch Brentanos Freundin Karoline von Günderrode lebte in äußerster Begrenztheit und sehnte sich nach der Flucht daraus, und sei es nur in Versen: „In die heitre freie Bläue/ In die unbegränzte (sic) Weite / Will ich wandeln, will ich wallen/ Nichts soll meine Schritte fesseln …“