

Abenteuer bei Sloppy Louie's
Tobias Heyl in FALTER 11/2012 vom 16.03.2012 (S. 20)
Die meisterhaften literarischen Reportagen des US-Journalisten Joseph Mitchell sind neu zu entdecken
Manchem Kollegen beim New Yorker galt Joseph Mitchell als Kauz. Schweigsam, in Gedanken versunken, betrat er am Morgen sein Büro, aus dem niemals ein Geräusch drang. Genauso unauffällig verließ er abends seinen Arbeitsplatz. Wer zufällig einen Blick auf seinen Schreibtisch werfen konnte, entdeckte dort bestenfalls ein paar Bleistifte und einige Bogen unbeschriebenen Papiers.
Ausgerechnet diesem introvertierten Einzelgänger verdanken wir die vielleicht besten, sicher aber die ungewöhnlichsten Reportagen über die Stadt New York in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Diaphanes Verlag legt in diesem Frühjahr einen zweiten Band davon in deutscher Übersetzung vor – und gleich hier sei der Wunsch nach einer vollständigen Ausgabe angemeldet.
Mitchell war 21 Jahre alt, als er 1929 aus North Carolina nach New York kam. Mit einer Reportage über eine Tabakauktion hatte er einen Redakteur auf sich aufmerksam gemacht, der ihn als Freelancer in die Metropole holte. New York wurde Mitchells Revier und der New Yorker von 1938 bis zu seinem Tod im Jahr 1996 sein Blatt. Er schrieb kurze Stücke für den "Talk of the Town" und lange Geschichten über unbekannte und vergessene Ecken der Stadt, die er auf langen Exkursionen erkundete.
So schweigsam er sich gegenüber seinen Kollegen gab, so groß war sein Talent, den Menschen dort ihre Geschichten zu entlocken: den Wirten schräger Hafenkneipen, den Fischern, Rattenjägern und Friedhofsverwaltern. Er lässt sie einfach nur erzählen, manchmal eine ganze Seite lang. Sie sprechen für ein New York, dessen Existenz auch den meisten New Yorkern unbekannt sein dürfte – damals und heute.
Es ist ein dörfliches, kleinbürgerlich-proletarisches New York, das Gegenbild zum New York Woody Allens gewissermaßen. Mitchell bewegt sich an den Rändern der Stadt, er entdeckt verwachsene Friedhöfe auf Staten Island und Kneipen am East River, in denen die Zeit stehengeblieben ist.Der Pächter von Sloppy Louie's hat ein vierstöckiges Haus gemietet. Im Parterre ist sein Lokal untergebracht, die erste Etage nutzt er als Vorratsraum, in die übrigen Stockwerke hat er noch nie einen Fuß gesetzt, bis ihn sein Stammgast Mitchell dazu überreden kann. Es ist abenteuerlich, was die beiden dort, in den Fluren eines längst geschlossenen Hotels, entdecken.
Dem korrespondiert die nächste Reportage, die von den Schiffen handelt, die rund um New York auf Grund gelaufen sind. Die Fischer kennen ihre genaue Lage, denn die Wracks sind beliebte Laichplätze, noch 1951 bevölkert von einer unglaublichen Vielfalt von Arten: "Dazu zählen Maifisch, Dorsch, Wittling, Meerbrasse, Winterflunder, Sommerhering Großaugenhering, Sägebarsch, Leng, Makrele, Butterfisch und Tautog." An solchen Aufzählungen kann sich Mitchell berauschen, auch wenn er die Flora auf Staten Island auflistet. Da schreibt der Sohn eines Farmers mit kennerhaftem Blick auf die Natur. Vielleicht standen ihm die Fischer in manchen Momenten ja näher als die Kollegen beim New Yorker.
Und doch sind diese Reportagen klassische Großstadtgeschichten. In immer neuen Wendungen beschwören sie – unausgesprochen – das Wunder der sozialen und kulturellen Vielfalt, das eine wahre Metropole ausmacht. Die Fischschwärme in den Wassern rund um New York entsprechen auf geheimnisvolle Weise den Menschentrauben, die auf den Straßen der Stadt unterwegs sind. Die Stadt, die man gewöhnlich für ein Produkt von Ingenieuren und Architekten hält, verwandelt sich aus dieser Perspektive in ein komplexes Ökosystem, bevölkert von unzähligen Arten, die sich ihre passenden Nischen suchen und sich dort einrichten.
Für den New Yorker wurde diese Form der literarischen Reportage, der eine intensive Recherche vorausgeht, stilbildend. Der Einzelgänger Mitchell setzte Standards für das ganze Blatt, heute wird er auch zu den Vätern des New Journalism gerechnet. Sein Blick aber, sein Ton und sein Gespür, sich im richtigen Moment zurückzunehmen, um andere sprechen zu lassen – so etwas lässt sich nicht erlernen, das taugt nicht zur Schulbildung. Solch glückliche Verbindung von Talent und Handwerk kommt nicht nur im Journalismus selten vor.