

Kühler rauer grauer Stoff
Maik Novotny in FALTER 41/2017 vom 13.10.2017 (S. 39)
Architektur: Die Architektur des Brutalismus mit ihren betonverliebten Bauten erlebt eine Wiederentdeckung
„Betonmonster! Betonklotz!“ Nein, die breite Öffentlichkeit ist nie warm geworden mit dem kühlen grauen Baustoff. Immer wieder wird auf ihn eingeprügelt, oft wird vor lauter Zorn gar nicht mehr genau hingeschaut und werden selbst Ziegelbauten und Asphaltplätze mit dem Verdikt der Betonwüste belegt.
Andererseits hat dieses undogmatische Material, das sich fügsam in serielle Industrieprodukte, weit spannende grazile Brücken und bildhauerische Poesie gießen lässt, auch seine Fans, und das nicht nur unter Architekten und Ingenieuren. Das gilt auch für den Brutalismus, den vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren weltweit populären Baustil, dessen Name sich vom „béton brut“, dem rauen Beton, herleitet.
Jahrzehntelang als inhuman verteufelt, erlebt er zurzeit eine erstaunliche Renaissance. Mehr als 54.000 Mitglieder hat die Brutalism Appreciation Society auf Facebook, und Tumblr und Pinterest sind voll mit den wuchtigen Bauten. 2016 widmete die Wiener Kunsthalle eine ganze Ausstellung dem Thema Beton. Dabei übertönt die Lust an der Ästhetik gerne die grundlegende Ethik dieser Nachkriegsarchitektur. Die meisten Bauten sind öffentliche Gebäude, aus dem progressiven Geist der 1960er-Jahre geboren, Schulen, Universitäten und Bibliotheken für alle Klassen, ohne Hierarchien. Die Spiegelglastürme, die heute in Dubai, Shanghai und New York emporschießen, sind dagegen vielleicht optisch weniger brutal, aber weit weniger human.
Die Wiederentdeckung des Brutalismus hat in den letzten Jahren zu einer wahren Buchflut geführt. Die Publikationen wechseln dabei zwischen kaffeetischkompatiblem Abfeiern der Ästhetik und fachlicher Analyse. Den besten gelingt beides. Besonders aktiv auf dem Betonbuchmarkt ist Großbritannien, das Mutterland der Bewegung. Die Hunstanton School in Norwich, 1954 vom selbstbewussten Architektenpaar Alison und Peter Smithson erbaut, gilt als Keimzelle des britischen Brutalismus-Booms. Bücher wie Barnabas Calders „Raw Concrete“ (2016) bieten einen fundierten Rückblick auf diese Ära.
Auch Simon Phipps kann auf eine Faszination verweisen, die weiter zurückreicht als die momentane Begeisterungswelle. Aufgewachsen in der modernen Retortenstadt Milton Keynes, studierte er Bildhauerei und arbeitet heute als Fotograf. In „Finding Brutalism“ nähert er sich den Bauten, als wären sie abstrakte, fremdartige Formen. In kontrastreichem Schwarzweiß fotografiert, halten seine Bilder die Balance zwischen düsterer Dystopie, die alle Vorurteile gegen die Inhumanität des Betons zu bestätigen scheint, und einer Feier der bildhauerischen Opulenz und des Ideenreichtums der Architekten. Die Abwesenheit von Menschen verleiht der Architektur zudem eine fast abstrakte Maßstabslosigkeit.
Die „raue Poesie“ und „Witterungspatina“ des Materials, wie sie Catherine Ince in einem Essay beschreibt, stehen dabei im Vordergrund. Mal wirkt der Beton heute noch glatt und neu, wie beim 40 Jahre alten National Theatre in London, manchmal erscheint er felsig ausgespült und von Flechten überkrustet. Eine faszinierend strenge fotografische Meditation über eine in Würde gealterte Ära energiegeladener Monumente.
Geradezu überbordend und farbenfroh begeistert wirkt dagegen das Kompendium „SOS Brutalismus“, das anlässlich der im November eröffnenden gleichnamigen Ausstellung am Deutschen Architekturmuseum Frankfurt erscheint. Hier wird der Brutalismus rund um den Globus kartiert, was zu atemberaubenden Entdeckungen führt und gleichzeitig verdeutlicht, welch internationales Phänomen diese Architekturströmung war. Ob sozialistisch oder kapitalistisch, demokratisch oder autokratisch, ob als Bildungsprogramm westlicher Wohlfahrtsstaaten oder Nation Building auf der Südhalbkugel. Beton war von 1960 bis 1980 überall. Gleichzeitig wurde er immer wieder mit regionalen Traditionen vermischt und vom Eigensinn der Architekten verformt.
Die wildesten Formexperimente finden sich in Südamerika, in Zentralasien kreuzte man Betonkonstruktion mit Ornamenten aus der islamischen Architektur. Die 120 Fallstudien im Buch stellen diese Entdeckungen im Detail vor und verlassen sich lobenswerterweise nicht nur auf Bekanntes. Dabei sind Schweizer Kirchen, wie aus Fels gehauen, „Australian Ugliness“, Sowjetmodernismus, wagemutige Konstruktionen wie die in die Luft gestapelten Balken des Verkehrsministeriums in Tiflis, Kleinodien wie das Dr. Minazaki House von Youji Watanabe im japanischen Shizuoka, das nur auf James-Bond-Bösewicht-Location-Scouts zu warten scheint.
Nicht wenige dieser Bauten führten eine unruhige Existenz, manche sind vom Abriss bedroht, andere stehen leer, wieder andere wurden durch spätere Umbauten zur Unkenntlichkeit verfremdet. Nur wenige stehen unter Denkmalschutz. Selbst Architekten tun sich heute schwer mit dem Erbe der „Betonmonster“. Manchen von ihnen musste von den Herausgebern gut zugeredet werden, bevor sie der Publikation ihrer Werke unter dem Label Brutalismus zustimmten. Wie umstritten die Bauten dieser Ära auch hierzulande sind, sieht man zurzeit bei Herwig Udo Grafs Kulturzentrum in Mattersburg, das trotz langjähriger Proteste akut vom Abriss bedroht ist. Wenn auch hier das „endgültige Ende der kurzen und zarten Ära eines naiven Optimismus“ droht, wie es der niederländische Architekt Reinier de Graaf nennt, wäre das ein Jammer. „SOS Brutalismus“ ist daher ein höchst willkommener und dringend nötiger Hilferuf, der Hand in Hand mit fachlich fundierter Begeisterung daherkommt.
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