

Von Los Angeles nach Teheran
Kirstin Breitenfellner in FALTER 42/2024 vom 18.10.2024 (S. 29)
Wenn das erste Wort eines Jugendromans „Schwulsein“ lautet, ist damit ein Thema vorgegeben, das zeitgemäß unter dem Begriff „Queerness“ subsumiert wird und um das man in diesem Genre derzeit nicht herumkommt.
Ungewöhnlich machen das Buch mit dem Titel „Nur dieser eine Augenblick“ von Abdi Nazemian, US-amerikanischer Autor mit persischen Wurzeln, die Lokalisierung der Handlung zwischen Kalifornien und Teheran sowie der zeitliche Rückgriff bis in die 1930er-Jahre.
Seinen drei Hauptfiguren Moud, Saeed und Bobby sind abwechselnd Kapitel gewidmet, in denen sie als Icherzähler auftreten. Da es sich bei ihnen um Sohn, Vater und Großvater handelt, trifft man sie trotzdem in einigen davon gemeinsam an.
Das erste Kapitel erzählt der 17-jährige Moud, und sein einleitender Satz lautet: „Schwulsein im Internet ist anstrengend.“ Wir schreiben das Jahr 2019, und Moud hat soeben seine Timeline gelöscht, aus der seine sexuelle Orientierung – Moud nennt sie „wahres Selbst“ – ablesbar ist. Das liegt nicht daran, dass sein Vater Mouds Schwulsein wie auch seinen Freund Shane schlicht ignoriert, sondern hängt mit einer Reise zusammen. Da sein Großvater nicht mehr lange zu leben hat, macht Moud sich mit seinem Vater in den Iran auf – zum ersten Mal in seinem Leben.
„Aber sie töten queere Menschen“, regt sich Shane auf, als er davon erfährt. Beide kennen die Fotos der Teenager, die für ihre Homosexualität gehängt wurden. Moud hält Shane entgegen, dass die US-amerikanische Gesellschaft sich „um Öl aus Ländern mit grauenhaften Menschenrechtsverletzungen“ drehe. „Du hast meine Werte nie geteilt“, kontert Shane. Während der ganzen Reise wird der Beziehungssegen schief hängen bleiben.
Manchmal hat man das Gefühl, dass das Bashing der USA im Vergleich zu jenem der ungleich restriktiveren Gesellschaft des Iran ein wenig überzogen ist. Glücklicherweise bleibt Abdi Nazemian in seinem spannenden Roman aber nicht auf der politisch korrekten Oberfläche hängen, sondern taucht tief in das Innenleben seiner Protagonisten, ihre Beziehungen und Schicksale hinab.
Dabei gelingt es ihm, ein differenziertes Bild des Lebens im Iran zu zeichnen. Auch dort gibt es unterschiedliche Meinungen, jede Menge Menschlichkeit, ja es werden sogar (illegale) queere Partys gefeiert.
Über die Jugendgeschichte von Mouds Vater Saeed, angesiedelt im Jahr 1978 in Teheran, lernt man einiges über die persische Alltagskultur sowie über die verunglückte Revolution gegen Schah Mohammad Reza Pahlavi, die zum noch autoritäreren Regime der Mullahs geführt hat.
Großvater Bobby entpuppt sich im Laufe der Handlung als in Los Angeles aufgewachsener Sohn einer Amerikanerin und eines Persers, dem sich im Jahr 1939 die Chance zu einer Hollywood-Karriere eröffnet. Aufgrund seiner Vorliebe für Männer – personifiziert in seinem Freund Vicente – gerät er in gehörige Schwierigkeiten. Denn das Studiosystem von Metro-Goldwyn-Mayer gewährt seinen „Protegés“ kein unabhängiges Leben mehr. Als der amerikanische Staat Vicentes Vater, der unverschuldet arbeitslos geworden ist, nach Mexiko zurückschickt, macht sich Bobby auf die Suche nach seinem Vater im Iran.
Dass Abdi Nazemian auch als Produzent und Drehbuchautor arbeitet, merkt man dem Roman an. Die Dialoge sind lebendig und glaubwürdig, wenn auch manchmal ein wenig pathetisch psychologisierend, so wie es die Hollywood-Industrie liebt, und bisweilen sieht man die dazugehörigen Filmbilder schon vor sich.
Jedenfalls steckt so viel pralles, komplexes, kompliziertes Leben in dem Buch über „nur einen Augenblick“, dass man dessen bisweilen gereckten Zeigefinger gerne übersieht