

„Wir sehen uns zwischen den Zeilen“
Kirstin Breitenfellner in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 27)
Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis jemand zu beweisen vermochte, dass es möglich ist, den Briefroman in die heutige Zeit zu transformieren – als Roman aus Messages. Mit ihrem für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominierten vierten Jugendbuch „Und die Welt, sie fliegt hoch“ legte Sarah Jäger letztes Jahr die Latte dafür sehr hoch. Die Protagonisten sind die 14-jährige Ava, die Hausarrest hat, und ihr ehemaliger Klassenkamerad Juri, der seine sicheren vier Wände nur ungern verlässt, ein quirliges Mädchen und ein hochsensibler, introvertierter Junge.
Dass das Genre Potenzial hat, beweist der soeben ins Deutsche übersetzte Jugendroman: „Sorry, aber ich bleibe“ von Alessandro Barbaglia. Auch er spannt zwei 14-Jährige zusammen, die sich nicht sehen, sondern nur schreiben. „Geh sterben“ lautet die erste Nachricht an Zeno. In derselben Minute, exakt um 14.37 Uhr, folgt ein „Du bist hässlich!“.
Damit sollte die junge Leserschaft hineingezogen sein in die Handlung. Es geht um Mobbing und ein Video, das gegen Zenos Willen online gestellt wurde. „Hey, hast du schon gehört? Da wurde so ein Fettsack auf dem Klo in der Schule eingesperrt! Ach so, klar hast du’s gehört: Das bist ja du!“ Zeno antwortet erst nach der 17. Message: „Hör auf!!!“ Bei dem „Beschuss“ handelt es sich allerdings nicht um eine weitere Stufe der Mobbingspirale, sondern um einen – freilich nicht sofort erkennbaren – Rettungsversuch.
„Sorry, aber ich bleibe“, erklärt die Absenderin „Luna Nervensäge Niemals“ drei Messages später. Sie hat nämlich nicht vor, Zeno mit seinem Problem alleinzulassen. Und das, obwohl dieser kategorisch fordert: „Schreib mir nicht mehr!!!“ „Ich hab dir gar nicht geschrieben. Ich hab dir eine Sprachnachricht geschickt“, kontert Luna.
Alessandro Barbaglia, geboren 1980, hat mit seinem ersten Kinderbuch den renommierten italienischen Premio Strega gewonnen und lebt als Buchhändler und Autor zahlreicher Bücher in Novara. Es steht zu hoffen, dass die erste deutsche Übersetzung weitere nach sich zieht. Denn Barbaglia beherrscht den Spannungsaufbau und die Kunst, Information via Dialogen einsickern zu lassen.
Bis Luna Zenos Vertrauen gewinnen kann, dauert es eine Weile. Letztendlich gelingt es ihr mit Hartnäckigkeit und einer Portion Rücksichtslosigkeit. Denn dass Zeno Sprachnachrichten hasst, hält sie nicht davon ab, ihm weiterhin solche zu schicken.
Nach und nach lockt sie Zeno aus der Reserve. Aber warum schreibt sie ihm überhaupt? „Du bist da. Bei dir kann ich alles sein, was ich will, gerade weil du über mich und meine Vergangenheit NICHTS weißt“, gesteht sie einmal. Und fordert von Zeno, nie ihre Identität aufzudecken. Warum sie so gerne Schritte zählt, verrät sie auch nicht.
Luna gibt gerne Rätsel auf. Und sie besitzt die Gabe, Zenos Meinung „über einen Haufen Dinge“ zu ändern. Wer Luna wirklich ist und warum sie solche Angst hat, dass Zeno das erfährt, wird gegen Ende aufgedeckt, sei hier aber nicht verraten.
In der Mitte des Romans und am Ende gehen die beiden zu E-Mails über. Das hat den Vorteil, dass sie sich damit auch ausführlicher aussprechen können. „Wir sehen uns zwischen den Zeilen“, hat Luna Zeno einmal zu Beginn ihres einen Monat dauernden Chats geschrieben. Am Schluss muss sie ihre Angst überwinden, ihn wirklich zu sehen, um nicht die zarte Liebesgeschichte zu gefährden, die sich zwischen ihnen entsponnen hat.
„Wenn wir rumlaufen und nach dem richtigen Menschen suchen, na ja, dann finden wir ihn nie. Weil es keinen richtigen Menschen gibt, denn wir sind alle ein bisschen falsch“, schreibt Zeno in seinem längsten Mail an Luna. „Deswegen muss man die richtigen Falschen suchen.“ Ein cooles und berührendes Buch.