
Alle wollen es, aber niemand will es geben
Andreas Kremla in FALTER 11/2020 vom 11.03.2020 (S. 44)
Psychologie: Martin Hartmann legt eine kluge Analyse der Krise des Vertrauens vor und zeigt Auswege
Ohne Vertrauen wäre alles nichts. Wir könnten keine Bankgeschäfte machen, keiner Behörde Daten senden, keine Freunde finden und schon gar keine Liebe. „Vertrauen ist wie die Luft zum Atmen“, schreibt der Philosoph Martin Hartmann: „Solange alles in Ordnung ist, bemerken wir sie gar nicht.“ Ganz selbstverständlich ist es da und wird erst bemerkt, wenn es weg ist.
Wird in den letzten Jahren gerade deswegen so viel davon gesprochen, weil so wenig davon da ist? Wir haben nicht die Vertrauenskrise, wie sie viele pauschal für Politik und Medien propagieren, lautet Hartmanns erster Befund in seinem neuen Buch „Vertrauen. Die unsichtbare Macht“. Wir haben vor allem Schwierigkeiten, Vertrauen in einer immer komplexeren Welt zu schenken. Denn unser Vertrauen ist grundsätzlich auf Personen gerichtet. Es braucht ein Gesicht, eine Person, die es gewinnt, gewährt oder verspielt.
Doch unsere Wirklichkeit wird immer komplexer und macht es uns immer schwerer, Einzelne zu identifizieren, die Verantwortung für all das tragen, was um uns herum und mit uns geschieht. Es gehe daher nicht um eine generelle Krise des Vertrauens, sondern vielmehr um „eine Krise der Erfahrbarkeit von Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit“.
Hartmanns Ansätze, um das Phantom zu fassen, sind bemerkenswert: Kriminelle identifiziert er als Vertrauensexperten. Als Extrembeispiel führt er vor, wie ein berühmter Sportarzt das Vertrauen seiner jugendlichen Patienten gewinnt, um sie zu missbrauchen. Er fragt, ob Vertrauen nicht einfach dadurch gegeben sei, dass wir schlichtweg vertrauen müssen, weil wir sonst die banalsten Alltagshandlungen nicht bewältigen könnten. Er hinterfragt die im Marketing verwendeten Varianten des Vertrauensbegriffs, etwa in ein Unternehmen oder eine Marke.
Am heißesten wird seine Suche beim rein Menschlichen: Vertrauen heiße, sich in seiner Verletzlichkeit zu zeigen, konstatiert Hartmann. Und diagnostiziert damit gleichzeitig ein großes Dilemma: Alle Menschen sehnen sich danach, dass ihnen vertraut wird, und doch scheuen sich viele davor, sich anderen verletzlich, bedürftig und unperfekt zu zeigen. Wie der Autor es auf den Punkt bringt: „Alle wollen Vertrauen“, aber: „Niemand will vertrauen.“
Der Forschungsschwerpunkt des Professors an der Universität Luzern ist die Praktische Philosophie, insbesondere in den Bereichen der Politischen und der Sozialphilosophie. Unter dem Titel „Die Praxis des Vertrauens“ (2011) hat er das Phänomen schon früher an konkreten Beispielen aus Politik, Wirtschaft und Familie erklärt.
Auch im vorliegenden Werk zeigt er, dass sich diese Essenz des Zwischenmenschlichen nur in der Praxis wirklich greifen lässt. Gerade weil er nicht den Anspruch auf eine letztgültige theoretische Definition des flüchtigen Phänomens erhebt, wimmelt es hier von treffenden Sätzen zum Thema.
Dabei stützen sich Hartmanns Ergebnisse nicht nur auf eigene aufmerksame Beobachtungen und Gedanken. Große Umfragen zu aktuellen gesellschaftlichen Trends wie etwa die World Value Survey zieht er ebenso heran wie psychologische Experimente und Zitate von Vordenkern wie Michel de Montaigne, Jean-Paul Sartre oder des 2003 verstorbenen englischen Moralphilosophen Bernard Williams.
Wie flüchtig und abstrakt sein Gegenstand auch erscheinen mag, Hartmann geht stets von konkreten, nachvollziehbaren Erfahrungen aus. Diese schildert er anders als so mancher akademische Philosoph in einer verständlichen Sprache, mit allgemein gebräuchlichen Wörtern und klaren, oft pointierten Sätzen. Es fällt leicht, seinen essayistisch um die Aspekte des Vertrauens mäandernden Gedanken zu folgen, die den Begriff letztendlich einkreisen, ohne ihn völlig festzunageln.
Hartmanns Buch ist weniger eine theoretische Abhandlung als eine Ermutigung zur Praxis: Bei aller Sehnsucht nach Sicherheit gälte es, mehr Vertrauen zu wagen. Das heißt vor allem auch, Räume zuzulassen, in denen es sich entfalten kann. Alles abzusichern und abzudichten hieße, dem Vertrauen und damit allem Zwischenmenschlichen die Luft zum Atmen zu nehmen. Dann bezahlen wir die vermeintliche Sicherheit mit dem Verlust der sozialen Freiheit, in der wir einander ohne ständige Kontrolle begegnen können.
Am Ende hinterlassen Hartmanns scharfsinnige Analysen das gut begründete Gefühl, unserem Vertrauen vertrauen zu können.


