

Geschichten von Stahl und Rauch
Georg Renöckl in FALTER 41/2014 vom 10.10.2014 (S. 28)
Die Autorin und französische Ex-Ministerin Aurélie Filippetti setzt ihren Vorfahren ein literarisches Denkmal
Frankreich hat den Intellektuellen erfunden. Philosophie, Literatur und Politik sind dort seit jeher kommunizierende Gefäße, was sich auch am literarischen Schaffen französischer Politiker und dem politischen Engagement französischer Literaten zeigt, von Chateaubriand bis de Villepin. Auch Aurélie Filippetti war nicht nur Abgeordnete, sondern bereits erfolgreiche Schriftstellerin, als sie 2012 unter François Hollande zur Kulturministerin berufen wurde.
Ihr Debütroman "Das Ende der Arbeiterklasse" erschien in Frankreich bereits 2003. Filippetti war damals 30, engagierte sich bei den Grünen und arbeitete unter Premier Lionel Jospin im Umweltministerium. In ihrem Roman erzählt sie die eng verbundenen Geschichten ihrer Familie und ihrer Heimatregion, des nördlichen Lothringens. Der Großvater ist einer der zahllosen italienischen Immigranten, die von der Aussicht auf einen gutbezahlten Job in der boomenden französischen Metallindustrie über die Alpen gelockt wurden.
1944 wird er als Mitglied der lokalen Résistance in seinem Stollen von der Gestapo verhaftet, gefoltert und nach Bergen Belsen deportiert, wo er kurz nach der Befreiung an Typhus stirbt. Sein Sohn Angelo – der Vater der Erzählerin – tritt in seine Fußstapfen, beginnt mit 14 unter Tage zu arbeiten, wird Kommunist, Arbeiterführer und später Bürgermeister. Er geht wie viele seiner Genossen am Lungenkrebs zugrunde, als dessen Ursache die Amtsärzte stets das Rauchen, aber nie den Staub der Minen erkennen wollen. Parallel zu Angelos Leben erfährt Lothringens Metallindustrie ihren Aufstieg, Höhepunkt und Niedergang. 1992, in Angelos Todesjahr, wird Frankreichs letzte Erzmine geschlossen.
"Das Ende der Arbeiterklasse" ist der erste Roman einer Musterschülerin, und das merkt man auch. Die Erzählerin hat einen etwas anstrengenden Hang zum Pathos und zur allzu kühnen Metapher. Die lothringischen Metaller sind "Schmetterlinge im Spinnennetz des Eiffelturms", über Lothringen wölbt sich ein "tintenblauer Himmel, an dem die Wolken wie Geschoße explodierten", Frankreich ist ein "Land, an dem man sich bei jeder Zuckung der Geschichte verging wie an einer Frau".
Vom hohen Ton sollte man sich dennoch nicht abschrecken lassen: Zum einen ist das Buch eine literarische Verbeugung vor den Leistungen vorangegangener Generationen, der man eine gewisse Feierlichkeit schon zugestehen kann. Zum anderen fügen sich die Momentaufnahmen, Gesprächsfetzen und Erinnerungsblitze dieses Buches nach und nach zu einer faszinierenden Geschichte.
Sie handelt von einem jahrzehntelangen Kampf in einem vergessenen, staubigen Winkel Frankreichs. Die italienischen Immigranten und ihre Kinder müssen sich ihren Platz in einer feindseligen Gesellschaft, die Bergleute menschenwürdige Arbeitsbedingungen mühsam erstreiten. Mit der globalisierten Stahlindustrie erwächst ihnen ein übermächtiger Gegner, dem die französischen Erzvorkommen im Vergleich zu Südamerika schlicht zu wenig profitabel sind.
Wo genau der Feind sitzt, ist nicht immer klar, ob es sich überhaupt zu kämpfen lohnt, noch weniger. So will Angelo einerseits dem Arbeiterelend entkommen und seinen Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen, andererseits keinesfalls "einer von denen" werden: "Wenn wir es schaffen, bedeutet das, dass sie gewonnen haben."
Nicht nur als Autorin, sondern auch als Politikerin legt Aurélie Filippetti Wert auf formale und inhaltliche Stimmigkeit. In einem gestochen formulierten offenen Brief gab sie ihren Rücktritt als Ministerin bekannt, als der schillernde, den Regierungskurs öffentlich kritisierende Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg vor wenigen Wochen aus der Regierung geworfen wurde. Sie könne die von Premier Manuel Valls vorgegebene Linie nicht mittragen, schrieb Filippetti, und ziehe daraus die Konsequenz. Nun wird über eine Liaison der beiden Zurückgetretenen spekuliert.
Wie auch immer: Der französischen Öffentlichkeit wird die brillante Arbeitertochter wohl auch nach ihrer kurzen Karriere als Ministerin noch eine Weile erhalten bleiben. Und einen zweiten Roman von ihr – diesmal erotischer Natur – gibt es auch schon.