

Das Geld und die Frage nach dem Eigentlichen
Jörg Magenau in FALTER 12/2024 vom 20.03.2024 (S. 11)
Karl Marx hielt das Kapital für ein „scheues Reh“, also für etwas Fluchtbereites. Ängstlich entzieht es sich den Blicken und sucht rasch das Weite, wenn es erschreckt wird. Ulrich Peltzers Ich-Erzähler Bruno van Gelderen folgt etwa 150 Jahre nach Marx einer anderen Maxime.
Er hat gelernt, dass es in der Welt allzu viel „einsames Kapital“ gibt, das nach Anschluss und einer Aufgabe sucht: „Reich ihm freundlich die Hand, und es folgt dir willig.“ Man muss es nur mit Renditeversprechungen hervorlocken, und schon läuft es brav hinterher. Das ist die Sichtweise von Spekulanten, für die der Sinn des Geldes in dessen fortgesetzter Vermehrung liegt.
Zu einem Zocker wird auch Bruno van Gelderen, dessen Name auf die Herkunft von einem Bauernhof an der deutsch-niederländischen Grenze verweist, der aber auch programmatisch zu lesen ist. Ums Geld dreht sich bei ihm alles.
Nach dem Roman „Das bessere Leben“, mit dem er 2015 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, macht der Berliner Schriftsteller Ulrich Peltzer erneut die Finanzwelt zum Gegenstand – nicht unbedingt deshalb, weil er sich für ausgetüftelte Anlagestrategien interessieren würde, sondern weil Kapital die Macht besitzt, Lebensläufe entscheidend zu beeinflussen.
Van Gelderen fügt sich passgenau in Peltzers literarischen Kosmos, der das linksalternative Berlin seit Anfang der 80er-Jahre umfasst. Er ist ein Autor, der sich stets fürs Gesellschaftliche und für die Geschichte der Linken interessiert hat.
Peltzer weiß jedoch, dass das Politische sich nicht unbedingt daraus ergibt, dass man über Politik oder über Revolte und Revolutionen schreibt, sondern aus der Frage nach dem, was das Leben ausmacht. Es ist die Suche nach dem „Ernst des Lebens“, die dem neuen Roman den Titel gibt. Seine Helden sind Einzelgänger, Beobachter am Rand der Gesellschaft.
Das gilt auch für Bruno, der zwar durchaus von Beziehungen zu Frauen berichtet, aber grundsätzlich nichts am Alleinsein auszusetzen hat. Überhaupt ist er eher bedürfnislos, materiell ebenso wie transzendental. Religion interessiert ihn nicht, Liebe hält er für eine Illusion und Heimat für einen „seltsamen Begriff, mit dem ich nichts anfangen kann“.
Geld ist nicht sein Ziel, sondern eher ein Mittel, um in Bewegung zu geraten. Heimatlosigkeit – der ältere Bruder hat den Bauernhof der Eltern übernommen und in einen florierenden Bio-Betrieb umgewandelt – ist die Voraussetzung seines Absturzes und seines Aufstiegs, von dem er ziemlich ungeordnet erzählt.
Warum und wem er sich mitteilt, erklärt er nicht. Bruno redet einfach drauflos, obwohl es nicht seine Sache ist, „ohne Anlass in der eigenen Vergangenheit rumzurühren“. Seine Erinnerung ist so lücken- wie sprunghaft. „Manchmal fällt einem wieder etwas ein, und man versucht, sich zurechtzufinden. Was war vorher? Was nachher? An welcher Stelle im Leben […] wie auf einer Skala, die mit der Geburt beginnt. Wie ist das alles vor sich gegangen? Wie ist es miteinander verbunden? Was fehlt?“
Man kann diese Passage als poetisches Prinzip verstehen. Ohne Kontinuität und chronologische Ordnung setzt sich die Lebensgeschichte aus Bruchstücken zusammen, wie sie sich in der Erinnerung einstellen.
Van Gelderen ist im Gefängnis gelandet, das erfährt man schon früh. Doch erst allmählich wird klar, warum. In den 1990ern kam er als Student nach Berlin, brach das Politologiestudium bald ab, um in einer Konzertagentur erstes Geld zu verdienen und sich in die Historikerin Julia zu verlieben.
Beides nimmt kein gutes Ende. Bruno verfällt immer mehr einer drogengestützten Spielsucht. Schließlich ist er so heruntergekommen, dass er die eigene Freundin bestiehlt, weil er Geld braucht, um es in Spielautomaten zu versenken. Im Delirium begeht er dann auch zwei lächerliche, dumme Raubüberfälle.
Eine andere, entgegengesetzte Geschichte ereignet sich nach den 30 Monaten Knast, in denen er qua Gefängnisbibliothek immerhin zum Leser und Lyrikfreund wurde. Sie handelt von dem schwerreichen Georgier Guram Kobiashvili, den Bruno im Fußballstadion als Mäzen eines unterklassigen Vereins kennenlernt. Der Georgier macht ihn zum „Chief Financial Officer“ seiner dubiosen Anlagevermittlungsagentur.
Peltzer lässt seinen Ich-Erzähler Absturz und Aufstieg ineinander verschachtelt erzählen. Ums Zocken und ums Geld geht es in beiden Strängen, auch wenn Bruno sich im Grunde nicht dafür interessiert. Vielleicht taugt der ehemalige Spieler ja deshalb zum Finanzakrobaten, weil jede Anlageform ein Spiel ist. Es versteht sich, dass Kobiashvilis Geschäfte zwar legal, aber nicht ganz astrein sind. Sein Business basiert auf der Erkenntnis, dass Gier und Selbstzufriedenheit der Kunden verlässliche Größen sind.
Die Frage nach dem Eigentlichen im Leben, die den Erzähler antreibt, ist damit nicht beantwortet. Er gesteht, nicht zu wissen, „was richtig und was falsch ist, was ein Unglück und was ein Leben wäre, bei dem man sich nicht ständig fragt, ob man’s so haben will, falls man überhaupt wählen kann“.
Bruno van Gelderen bleibt ein Getriebener, der weniger handelt als geschehen lässt, der aber das Glück hat, sich in der Unübersichtlichkeit des Daseins irgendwie einzurichten und im Lauf der Jahre an Gelassenheit dazugewinnt.
Vorangestellt hat Peltzer all dem ein Motto des spanischen Philosophen Baltasar Gracián, wonach es gilt, das Glück loszulassen, während man gewinnt: „Ein schöner Rückzug ist ebenso viel wert wie ein kühner Angriff.“ Davon handelt dieser vertrackte Roman über einen Spieler, der vergeblich nach dem Ernst und Sinn des Lebens sucht.