
Das Doppelgesicht der Selbstdarstellung
Julia Kospach in FALTER 41/2017 vom 11.10.2017 (S. 38)
Neue Medien: Was hat Selbstortung via Smartphone und Fußfessel mit Facebook- und Täterprofil zu tun?
Es ist noch keine 25 Jahre her, da hatten all jene, die die Sehnsucht verspürten, sich selbst, ihre Haltungen oder Vorlieben öffentlich darzustellen, nur die Wahl zwischen Zeitungsannonce, Sticker am Jackenrevers oder „ein paar Zeilen unter dem Foto in der Abiturzeitung“. Mit dieser Erinnerung leitet Andreas Bernard sein Buch „Komplizen des Erkennungsdiensts“ ein. Es liefert eine ausführliche Analyse eines flächendeckend etablierten Selbstverständnisses, von dem aus betrachtet die Zeit von vor 25 Jahren so weit entfernt wie die Steinzeit anmutet.
Die Insignien dieser digitalen Kultur sind in der westlich geprägten Welt längst so flächendeckend etabliert, dass es bei Personalchefs schon Irritation hervorruft, wenn etwa Bewerber „kein öffentliches Doppel ihrer selbst im Netz erschaffen, in Form von Profilen, Statusmeldungen, Kommentaren“.
Bernard geht es weniger um die häufig beschriebenen Erscheinungsformen solcher Phänomene, er zielt auf die wissenschaftsgeschichtliche Herkunft dieser digitalen Medientechnologien ab, und es ist aufschlussreich, detailliert darüber zu lesen, dass die Verfahren heutiger Selbstpräsentation und Selbsterkenntnis „auf Methoden zurückgehen, die in der Kriminologie, Psychologie oder Psychiatrie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erdacht worden sind“. Hauptorte ihrer technischen Entstehung: Heerestechnologie und Verbrechensbekämpfung, von dort übergesprungen in die breite Praxis von ziviler Nutzung und Vermarktung.
Unaufgeregt, facettenreich und tiefgründig macht Bernard auch deutlich, dass diese Genealogien bis heute die Doppelgesichtigkeit der gängigen Formate der digitalen Selbstdarstellung mitbestimmen. Online-Profile sind eines seiner zentralen Beispiele. Bernard zeigt nicht nur, wie sehr Profile ihrem Wesen nach „Raster der Menschenbeschreibung“ sind.
Ihrem Ursprung nach standen Profile ausschließlich im Dienste der Fahndung nach Delinquenten sowie der Prüfung von Abweichlern, waren also Täterprofile. Darin enthalten war stets das Erkenntnisinteresse des Profils, „einer prüfenden, wertenden Instanz Aufschluss über die Identität und das Verhalten abweichender Subjekte“ zu geben.
An die Stelle von Justiz und Polizei sind bei den Profilen der Jetztzeit Unternehmen wie Facebook und deren Anzeigenkunden getreten, die Interesse an den lukrativen Informationen haben, die sie von den Usern sogar freiwillig bekommen. Kennzeichen dieser digitalen Kultur sei, dass sich freiwillige Selbstdarstellung und Fremdsteuerung so nahe kämen, dass sie kaum mehr auseinanderzuhalten und auch durch den Daten- oder Privatsphärenschutz kaum zu erfassen seien. Ähnliches gilt für die GPS-Technik, Selbstvermessungstechniken via Fitness-Tracker oder Gesundheitsarmband bis hin zu Pränataldiagnostik oder Genanalyse.
Anders gesagt: Selbstortung und Fußfessel haben viel miteinander zu tun. Vor allem zeigt Bernard, wie wenig sich Hoffnungen aus der Frühphase des Internets bewahrheitet haben, als sich Kulturwissenschaftler das Internet als Spielwiese für ein „fluides, multiples Selbst im entgrenzten Raum“ fantasierten, das sich der Kontrolle entzöge, da es keinem identifizierbaren Individuum in der realen Welt zugeordnet werden könne.
Gekommen ist es anders. Denn gewonnen haben längst die „Profile“ der Online-Dating-Seiten, der Bewerbungskultur oder der Social-Media-Anbieter, die ganz auf Standardisierung setzen, während sich die Nutzer autonom wähnen und dabei beiläufig jede Menge kommerziell verwertbarer Information liefern. Bernard sieht im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine „Internalisierungsmacht“ verwirklicht, in deren Einflussgebiet die User Normvorstellungen kollektiv verinnerlicht haben. Ein ebenso erhellendes wie beunruhigendes Buch!


