

Nicole Scheyerer in FALTER 16/2020 vom 17.04.2020 (S. 38)
:: Als die Kunstkritikerin Julia Voss 2008 in Stockholm erstmals Gemälde von Hilma af Klint sah, konnte sie kaum fassen, dass sie von dieser visionären Künstlerin noch nie etwas gehört hatte. Für ihre Biografie hat sich die Kunsthistorikerin durch mehr als 26.000 Seiten Aufzeichnungen geackert.
Falter: Frau Voss, Hilma af Klint erhielt von Geistern Botschaften und Bilder. Wie sind Sie damit umgegangen?
Julia Voss: Ich habe zuerst einen Bogen um diese Stimmen gemacht, weil mir das so fremd war. Als Kunsthistorikerin widmete
ich mich stattdessen Hilma af Klints Reisen, Briefen und so weiter. Aber dann musste ich erkennen, dass das so nicht geht. Schließlich hat die Frau 124 Notizbücher hinterlassen, die zu 90 Prozent von diesen ungewöhnlichen Erfahrungen handeln. Ich habe dann begonnen, Schwedisch zu lernen und so viel wie möglich davon gelesen.
Wie erscheinen die Stimmen in diesen jahrelangen Notizen?
Voss: Als außerordentlich sympathisch und positiv. Sie wirken nicht autoritär, wollen vielmehr in Dialog treten. Sie sind so etwas wie die besten Freunde der Künstlerin. Ich wurde durch sie zur Agnostikerin. Früher hätte ich gesagt „Alles Quatsch!“, jetzt denke ich „Ich weiß es nicht“.
Sieht sich die Künstlerin eher als Medium, durch das fremde Kräfte wirken, oder auch als Autorin eigener Ideen?
Voss: Ich glaube beides. Über diese Frage denkt af Klint ihr ganzes Leben lang selbst nach. Es gibt einerseits starke Hinweise, dass sie sich vor allem als Medium begreift, wenn sie etwa ihre großen Tempelbilder nicht signiert. Andererseits folgt sie einem ganz normalen Schaffensprozess, mit Vorzeichnungen und Skizzen, von denen viele verworfen oder abgeändert werden. Bei einem Vortrag 1937 schildert die Künstlerin, dass sie Bilder zwar empfängt, aber sich selbst bemühen muss, diese durchzuarbeiten.
Auf der Biennale in Venedig 2013 wurden af Klints Werke im Rahmen sogenannter „Outsider Art“ gezeigt. Passt dieses Label?
Voss: Nein! Sie hat ja eine klassische Kunstausbildung und ist keine Autodidaktin. Es war eine ganz bewusste Entscheidung, ihr naturalistisches, akademisches Werk zu beenden und das andere zu beginnen. Außerdem braucht es für das Schaffen von drei Meter hohen Malereien viel Können.
Warum fehlt Hilma af Klint nach wie vor in der Geschichte der Abstraktion?
Voss: Die Abstraktion wird ja nicht gleich nach ihrem Entstehen historisiert, sondern ab den 1930ern in den USA und den 1940er- und 1950er-Jahren in Europa. In der Zeit des Kalten Krieges wird diese Kunst zum Aushängeschild des Westens, zur Heldentat des freiheitlichen, männlichen Leinwandhelden, der mit allen gesellschaftlichen Konventionen bricht. Alles Spirituelle wird dabei ebenso rausgeschrieben wie die Frauen.