

„Jirro ist unser gebrochenes Herz“
Stefanie Panzenböck in FALTER 42/2024 vom 18.10.2024 (S. 7)
Auf dem Buchumschlag sind drei schwarze Frauen in bunten, festlichen Kleidern zu sehen. Die mittlere hält ein Kind im Arm, die Frauen links und rechts von ihr legen ihr, wie zur Unterstützung, die Hand auf Schulter und Oberschenkel.
In dem neuen Buch der römischen Schriftstellerin mit somalischen Wurzeln, Igiaba Scego, geht es um den Kampf um solch innige Verbindungen zwischen Menschen. Gleich zu Beginn schreibt sie über ihre Familie, die „wie alle somalischen Familien der Diaspora, über fünf Kontinente zerstreut“ sei. „Zerrissen vom Krieg, der uns getroffen hat, von den Katastrophen, von einer alten Diktatur, von Tod und Liebe. Und jede Trennung zerstört uns. Versprengt uns. Vernichtet uns.“
„Kassandra in Mogadischu“ ist als Roman ausgewiesen, trägt abern klar autobiografische Züge. Die Namen hat Scego nicht verändert ihr eigener ist auch jener der Erzählerin. Diese schreibt einen Brief an ihre Nichte Soraya Omar Scego, die, wie man bald erfährt, die junge Waris Dirie in dem Film „Die Wüstenblume“ gespielt hat.
Dirie, ein aus Somalia stammendes Model, erregte mit ihrer Autobiografie Ende der 1990er-Jahre weltweit Aufsehen und setzt sich seither gegen die Genitalverstümmelung von Frauen ein. Drei Jahrzehnte zuvor war Scegos Vater, Ali Omar Scego, unter anderem Bürgermeister von Mogadischu. Die Eltern mussten fliehen, als 1969 der Diktator Siad Barre an die Macht kam. Ihre Kinder durften sie nicht mitnehmen. In Rom, wo sie sich eine neue Existenz aufbauten, wurde ihre jüngste Tochter, Igiaba, geboren.
Scegos Brief an ihre Nichte ist der Versuch, die Geschichte einer Familie, die über Kontinente verstreut ist, erzählend festzuhalten. Archive und Fotoalben wurden in den vielen Kriegen zerstört. Was bleibt, sind mündliche Überlieferungen und der persönliche Austausch mit jenen, die noch am Leben sind; was aber alles andere als einfach ist. Soraya etwa, die in Quebec lebt, spricht kaum Somali, aber auch kein Italienisch, kann sich mit ihrer Großmutter nur schwer verständigen.
Im Zentrum stehen Scegos Mutter und die Gespräche mit ihr; darüber, wie sie als Nomadin in Somalia aufwuchs, schon dort Gewalt erlebte, wie sie als Elfjährige in die Stadt kam und beschnitten wurde und ihr Leben lang unter der Verstümmelung litt. Als Erwachsene wurde sie die Frau eines Politikers und First Lady von Mogadischu.
Immer wieder kehrt Scego in die Silvesternacht des Jahres 1990 zurück. Während sie als 16-Jährige auf eine Party ihrer römischen Schulklasse geht, bricht in Somalia der Bürgerkrieg aus. Ihre Mutter ist nicht da, denn sie hat die italienische Hauptstadt kurz davor verlassen und ist nach Mogadischu gereist. Niemand kann in Erfahrung bringen, wie es ihr geht und ob sie noch lebt. Nach dem Sturz des Diktators Barres versinkt Somalia im Bürgerkrieg.
Das Buch kreist um den Begriff des „Jirro“, das somalische Wort für Krankheit. Doch es bedeutet noch viel mehr, wie Scego erläutert: „Es benennt unsere Verletzungen, unseren Schmerz, unseren posttraumatischen, kriegsbedingten Stress. Jirro ist unser gebrochenes Herz. Unser Leben auf der Kippe zwischen Hölle und Gegenwart.“
Die Autorin folgt nicht strikt der Chronologie der Ereignisse. Sie erzählt von den Kriegen und den vielen Toten. Sie liebt ihre Stadt, Rom, und sehnt sich nach einem Mogadischu, das es nicht gibt. Sie thematisiert den Kolonialismus der Italiener und Briten in Somalia, besucht mit ihren Neffen ein römisches Museum, das sich nun mit der geraubten Kunst auseinandersetzen will, und berichtet vom Rassismus, den ihre Familie oft zu spüren bekam.
Scego findet eine Sprache für die Zerrissenheit der Diaspora, für Krieg und Vertreibung, an einem wenig bekannten Schauplatz afrikanischer Geschichte. Mit „Kassandra in Mogadischu“ trägt sie dazu bei, dass Somalia wieder mehr ist als der „gescheiterter Staat“ am Horn von Afrika.