

Hallo, hier spricht Stalin
Erich Klein in FALTER 12/2025 vom 21.03.2025 (S. 11)
In den 2010er-Jahren kehrte der albanische Autor Ismail Kadare (1936–2024) noch einmal an das Gorki-Institut im Zentrum Moskaus zurück, den Ort, an dem er rund ein halbes Jahrhundert zuvor den Sozialistischen Realismus erlernen sollte. Sein letztes, eingangs fast nostalgisch anmutendes Buch „Der Anruf“ entwickelt sich dank Überblendung mehrerer Zeitebenen zu einer spannungsgeladenen erzählerischen „Untersuchung“ über Glanz und Elend der Literatur.
Kadare erinnert sich darin etwa an die Diskussionen in der Moskauer Kaderschmiede, wo die Studenten zu „Ingenieuren der Seele“ im Dienste des Kommunismus ausgebildet werden sollten, die Rede von der Entstalinisierung während Chruschtschows Tauwetter aber allzu wörtlich nahmen. Zu guten Sozialistischen Realisten werden sie nicht mehr, zu Alkoholikern schon.
Zugleich schreibt Kadare über sich selbst. Als Verfasser von gut 30 Büchern lavierte er sich durch die bleierne Zeit unter Albaniens Langzeitdiktator Enver Hoxha – mal von oben protegiert, mal unter Druck gesetzt, mal verfolgt. „Es hört nie auf, dieses Getöse, egal ob in Moskau oder in Tirana“, merkt der Autor traumverloren sinnierend an, ehe er unvermittelt zum eigentlichen Gegenstand der „Untersuchung“ gelangt.
Es geht um das berühmte Telefongespräch zwischen Stalin und Boris Pasternak im Jahr 1934. Der Diktator höchstpersönlich ruft den Dichter an und will dessen Meinung über den verhafteten Dichterkollegen Ossip Mandelstam hören. Der hatte erst kürzlich ein berühmtes Spottgedicht über den „Bergbewohner im Kreml“ verfasst, in dem es abschließend heißt: „Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten / Und breit schwillt die Brust des Osseten.“
Kadare untersucht die in dreizehn kaum voneinander abweichenden Versionen überlieferte Episode minutiös, verliert sein Thema mitunter aus den Augen, um danach wieder zu diesem zurückzukehren. Das nur wenige Minuten dauernde Telefonat zwischen Dichter und Diktator gilt bis heute als der Beleg für die Ohnmacht der Intelligenzija gegenüber der Staatsmacht. Pasternak bringt nichts als Gestammel hervor, worauf Stalin kurzerhand den Hörer auflegt.
Pasternak wiederum ergeht sich in Selbstzweifeln und Rechtfertigungen, schließlich hatte er es nicht gewagt, an Stalin die entscheidenden Fragen „über Leben und Tod“ zu richten. Worin diese bestanden hätten, ist nicht überliefert. Umso mehr weiß Kadare über die Rolle der Ehefrauen und sonstiger Schriftstellergefährtinnen zu berichten, vor allem über das Treffen von Anna Achmatowa mit dem englischen Philosophen und Diplomaten Isaiah Berlin, die einiges zur Verbreitung des verunglückten Telefonates beitrugen.
Die vom Hundertsten ins Tausendste abschweifenden „Untersuchungen“ Kadares gleichen ein wenig den berühmten russischen Puppen und erlauben es dem Autor, die eigene Biografie schreibend derjenigen Pasternaks anzunähern. Als junger Dichter hatte er selbst einen Anruf Enver Hoxhas erhalten, der ihm zu einem Poem gratuliert: „Ich sagte ,danke‘, mehr brachte ich nicht heraus.“
Anders als der schreckensstarre Pasternak war Kadare von dem Telefonat verdutzt, und die Biografien des Russen und des Albaners verliefen in der Folge sehr unterschiedlich: Kadare wurde für den Literaturnobelpreis wiederholt vorgeschlagen, Pasternak wurde er 1958 tatsächlich zugesprochen, der Dichter allerdings gezwungen, ihn abzulehnen. Kadares Beschreibung des Raumes, in dem sich der Schriftsteller in einer Diktatur bewegt, gerät zuletzt kryptisch: „Kompliziert wird die ganze Sache, als sie in eine andere Dimension übergeht, die man als ‚Zone des Todes‘ bezeichnen könnte. Erst jetzt wird das Geschehen unverständlich, hüllt sich in den Nebel, in dem es jahrzehntelang verbleiben wird.“ Sagen wir so: „Der Anruf“ ist ein Buch voll schimmernder Düsternis.