

Das unterschätzte Jahrzehnt
Gerhard Stöger in FALTER 11/2020 vom 11.03.2020 (S. 40)
Musik: Kenntnisreich und kurzweilig würdigt der deutsche Journalist Ernst Hofacker in „Die 70er“ die Popkultur der Seventies
Am 14. September 1974 trug sich im Bochumer Fußballstadion Seltsames zu: Nach der Pause kamen die Gäste ohne Tormann zurück aufs Spielfeld. Er war wegen einer Blessur zu lange behandelt worden, minutenlang blieb das Tor verwaist. Am selben Tag erreichte Eric Clapton mit „I Shot the Sheriff“ Platz eins der US-Charts. Im Original stammte das Lied von einem zu diesem Zeitpunkt noch wenig bekannten jungen Jamaikaner namens Bob Marley.
In seinem Buch „Die 70er. Der Sound eines Jahrzehnts“ verknüpft der deutsche Journalist und Autor Ernst Hofacker diese beiden Ereignisse. Er erzählt dann vom Zufall, der Clapton zu diesem Song brachte; er zeichnet kompakt die Geschichte des Reggae sowie der kolonialen Verstrickungen zwischen England und Jamaika nach, er umreißt die Biografie von Bob Marley und ordnet dessen Aufstieg zur globalen Ikone pophistorisch ein.
Dem „geradezu religiösen Eifer“, mit dem der Sänger mit den Rastalocken und seine Musik einst vom weißen Rockpublikum aufgenommen wurde, liegen für Hofacker zwei Faktoren zugrunde: Marleys charismatische Persönlichkeit sowie „ein Mangel an politischen und spirituellen Identifikationsangeboten, unter denen das Rockpublikum jener Jahre litt. Woodstock, die Hippiejahre und San Francisco waren vorbei, Mitte der 1970er-Jahre war die Rockkultur weit davon entfernt, attraktive Ideologien zu propagieren. Stattdessen befand sie sich auf dem besten Weg zur inhaltsleeren, dollarschweren, zynischen Freizeitindustrie.“
Hofacker hat allerdings kein Buch über Bob Marley geschrieben, sondern über die Popkultur einer ganzen Dekade, „geprägt von Utopie wie von Pragmatismus“. Jugendkulturell werden die Seventies ja gerne auf drei markante Symbole reduziert: Plateauschuhe, silberne Glitzerkugeln und Sicherheitsnadeln, die Insignien von Glam, Disco und Punk also. Tatsächlich war da weit mehr, wie der 1957 geborene Autor zeigt – und so jener Einschätzung widerspricht, wonach die Musik der jungen Menschen nach den rebellischen Sixties aufgebläht, fad und nichtssagend wurde, bevor Punk sie zu neuem Leben erweckte.
Die Einlassungen zu Punk zählen sogar zu den schwächsten des Buchs, das die Jahre 1970 bis 1979 in zehn Kapiteln plus einem Bonustrack unter die Poplupe nimmt und dabei jeweils von einem konkreten Datum und Ereignis ausgeht – bei Punk dem mythenumrankten Konzert, das die Sex Pistols am 4. Juni 1976 vor ein paar Dutzend Leuten in der Free Trade Hall in Manchester gespielt haben. Andere Kapitel behandeln etwa die Songwriterszene in Los Angeles, die Entstehung des Hardrock, Glampop, Krautrock, Disco und Hip-Hop. Nina Hagens Skandalauftritt in der ORF-Sendung „Club 2“ vom 9. August 1979 liefert den letzten Ausgangspunkt.
Kenntnisreich geschrieben und mit Details gespickt, ist „Die 70er“ über weite Strecken auch kurzweilig zu lesen. Auf eitel ausgestelltes Insiderwissen, nerdigen Dünkel und mühsamen Fachjargon verzichtet Hofacker in den essayistischen Würdigungen einzelner Szenen und Strömungen, dafür reflektiert er gesellschaftliche Entwicklungen sowie politische Rahmenbedingungen und liefert teils originelle Analysen: „Letztlich entstand Disco quasi aus der Konkursmasse der Hippie-Bewegung, ihrer Ideologie, ihrer gemeinschaftlichen Rituale, Happenings und Gatherings.“
An anderer Stelle heißt es, Hip-Hop stehe im selben Verhältnis zu Disco wie Punk zur etablierten Rockmusik: „Beide waren urbane Subkulturen, beide entstammten sozialen Randbereichen und artikulierten Außenseiterpositionen, beide setzten das Do-it-yourself-Prinzip gegen etabliertes Handwerk, und beide neigten zu schriller Ästhetik.“ Bisweilen geht der Rockprofessor mit Hofacker durch, er verliert dann kurz den Erzählfaden und ergeht sich in Auflistungen von Künstlern und Bands; auch Stil und Wortwahl sind nicht hundertprozentig funky. Wenn der Fernseher zur „Mattscheibe“ wird beispielsweise oder Pink Floyd wiederholt als „die zuvor bereits erwähnten Pink Floyd“ auftauchen.
Ein „Sehr Gut“ in der Pflicht steht also ein passables „Befriedigend“ in der Kür gegenüber. Unterm Strich ergibt das für „Die 70er“ allemal ein gutes „Gut“.