Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens

Roman | Reclams Klassikerinnen
270 Seiten, Hardcover
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ISBN 9783150114964
Erscheinungsdatum 19.07.2024
Genre Belletristik/Hauptwerk vor 1945
Verlag Reclam, Philipp
Nachwort von Tobias Schwartz
Sammlung Besser lesen mit dem FALTER - Die Bücher zum Podcast Folge 101-
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Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Siemensstr. 32 | DE-71254 Ditzingen
info@reclam.de
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Kurzbeschreibung des Verlags



Effi Briests vergessene Schwester


Die junge, verträumte Agathe wächst in einem großbürgerlichen Haushalt auf und möchte eigentlich alles richtig machen. Doch immer wieder eckt sie in der konservativen Gesellschaft des jungen Kaiserreichs an, weder ihre jugendliche Sehnsucht nach Freiheit und Selbstentfaltung noch ihr Wunsch nach Liebe erfüllen sich. Als ihr Bruder ihre Mitgift verspielt, steht ihr nicht einmal mehr eine Vernunftehe offen. Agathe verzweifelt und wird in eine Heilanstalt eingewiesen.
Gabriele Reuter wurde mit dem Roman schlagartig berühmt und dieser zu einem Bestseller.



»Ein bekannter ›Frauenrechtler‹ soll, so las ich, geäußert haben, wenn er Kultusminister wäre, so würde er dieses Buch in Hunderttausenden von Exemplaren drucken und verteilen lassen. Er täte ungemein wohl daran.«

Thomas Mann


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ISBN 9783150114964
Erscheinungsdatum 19.07.2024
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FALTER-Rezension

Sex, Gewalt und schlechte Laune

Klaus Nüchtern in FALTER 5/2025 vom 31.01.2025 (S. 29)

Wilhelm Conrad Röntgen entdeckt die nach ihm benannten Strahlen; Oscar Wilde wird wegen "Unzucht" zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt; Theodor Fontane veröffentlicht "Effi Briest". Ebenfalls im Jahr 1895 erscheinen die "Studien über Hysterie" von Josef Breuer und Sigmund Freud sowie Gabriele Reuters Roman "Aus guter Familie", der nun vom Reclam Verlag unter dem Claim "Effi Briests vergessene Schwester" neu aufgelegt wurde.
Tatsächlich war das Buch der damals 36-jährigen deutschen Schriftstellerin ein früher Erfolgstitel des noch jungen S. Fischer Verlages. Ebendort erschienen sechs Jahre später "Buddenbrooks" von Thomas Mann, der seiner Verlagskollegin öffentlich bekundete Wertschätzung entgegenbrachte - ebenso wie Sigmund Freud. In seiner Schrift "Zur Dynamik der Übertragung"(1912) attestiert er Reuters Roman, "die besten Einsichten in das Wesen und die Entstehung der Neurosen" bereitzustellen.

Vorgeführt werden diese am Beispiel der Protagonistin, der jungen Agathe, eben Tochter "aus guter Familie". So wie die "Buddenbrooks" unterliegen freilich auch die Heidlings einem "Verfall": Statt der erhofften Beförderung wird der Vater, ein Regierungsrat, in die Pension geschickt, was der Familie eine empfindliche Redimensionierung ihres Lebensstils oktroyiert, wodurch sich die Tochter genötigt sieht, der psychisch und körperlich zusehends angeschlagenen Mutter die Haushaltsführung abzunehmen. Sie selbst aber strebt unerbittlich dem Status der alten Jungfer entgegen, die in der zweiten Hälfte ihrer Zwanziger noch immer nicht unter der Haube ist: "Man sagte ihr Schmeicheleien, wie sie sich konserviere", heißt es einmal maliziös; "bei Abend könne man sie gut noch für ein ganz junges Mädchen halten".

"Die Introversion der Libido", schreibt Freud in dem erwähnten Aufsatz, sei "unentbehrliche Vorbedingung" jeder neurotischen Erkrankung; die Libido wende sich von der Realität ab und regrediere. Man wird Reuters Roman nicht gerecht, wollte man diesen auf eine Vorwegnahme von Versatzstücken der Psychoanalyse reduzieren, aber die von Freud beschriebenen Symptome sind an der Protagonistin unschwer auszumachen. "Aus guter Familie" ist eine Art inverser Entwicklungsroman; seine Coming-of-Age-Story kulminiert nicht in einer gefundenen oder errungenen, sondern erzählt von einer verfehlten Identität.

Vergleicht man "Aus guter Familie" mit Fanny Lewalds (1811-1889) ein halbes Jahrhundert zuvor erschienenem Roman "Jenny", der ebenfalls in der Reclam-Reihe "Klassikerinnen" neu herausgebracht wurde, springt der Kontrast ins Auge, gerade weil die Ausgangslage der beiden autobiografisch geprägten Werke so ähnlich ist.

Beide Protagonistinnen sind Teenager, die sich gegen soziale Konventionen auflehnen, wie sie sich vor allem in geschlechterspezifischen Rollenzuschreibungen manifestieren; und diese sind nicht zuletzt religiös determiniert. Um der Ehe mit einem Kandidaten der Theologie willen plant Lewalds aus säkularer jüdischer Familie stammende Titelheldin zu konvertieren. Allerdings kann sie die christlichen Dogmen nicht mit ihrem aufklärerisch-rationalistisch geprägten Weltbild vereinbaren.

Die junge Frau, der selbst ihr Bruder "zu viel Selbstgefühl und eine fast unweibliche Energie" attestiert und die sich zum Entsetzen ihres Bräutigams in spe mehr für Mozarts "Figaro" als für die Trinitätslehre zu begeistern vermag, schlägt das ihr wenig lebensfroh erscheinende Doppelpack aus Ehe und Konversion aus.

Agathe ist keine Jüdin, aber auch als 17-jährige Konfirmandin sind ihr die Verbote und Versprechungen, welche der Pastor im Unterricht anspricht beziehungsweise in Aussicht stellt, suspekt: "Sie begriff durchaus nicht, wie sie es anzustellen habe, um zu genießen, als genösse sie nicht. [] Wenn sie sich mit den Pastorsjungen im Garten schneeballte, versuchte sie, dabei an Jesum zu denken. Aber bedrängen die Jungen sie ordentlich, und [ ] die Lust wurde so recht toll -dann vergaß sie den Heiland ganz und gar."

Im Gegensatz zu Lewalds Jenny, deren Selbstbewusstsein fest in der Tradition der jüdischen Aufklärung und des Vormärz-Liberalismus verankert ist, kann Agathe auf kein vergleichbar robustes weltanschauliches Fundament bauen. Angebote zur Aufsässigkeit gegen ihre wohlbehütete und biedersinnige Existenz erreichen sie in Gestalt ihrer Freundin Eugenie und ihres Cousins Martin.

Erstere ist selber eine höhere Tochter aus wohlhabender Kaufmannsfamilie, klärt Agathe zu deren Entsetzen über die basalen Vorgänge der menschlichen Prokreation auf und entfacht mit pubertärem Pathos - "Agathe, ich habe geliebt!" - auch in dieser den Funken einer juvenilen Passion, die sich zunächst allerdings nur an den toten Lord Byron heftet. Reeller ist da schon die Nähe zu "Mani", besagtem Cousin, der offen mit dem Sozialismus sympathisiert und Agathe einen Gedichtband des revolutionären Georg Herwegh schenkt -der vom Vater prompt konfisziert wird. Lediglich Onkel Gustav, als argloser Lebemann das schwarze Schaf der Familie, beweist Mitgefühl mit seiner Nichte, indem er sie freundlich für deren Dummheit schilt, das Geschenk vor versammelter Tischgesellschaft auszupacken. Es sind nicht zuletzt solche Details, die Reuters hellwaches Sensorium für die Geschlechterverhältnisse und Erziehungsregime des deutschen Kaiserreiches belegen.

Wie in einem Roman Jane Austens ist die Mama ein bisschen doof und verbissen darum bemüht, der Tochter eine gute Partie zu sichern; und wie bei Austen steht Agathe dem Papa näher. Dessen Zuwendung wird hier freilich als paternalistische Strategie erkennbar, die Tochter an sich zu binden. Als der vor politischer Verfolgung in die Schweiz geflohene Martin, mittlerweile ein angesehener Autor progressiver Schriften, dort nach zwei Jahrzehnten seiner Cousine zufällig wiederbegegnet und sie drängt, sich dem väterlichen Einfluss endlich zu entwinden, antwortet sie: "Das ist ganz unmöglich. [ ] Er braucht mich. Wer soll ihn erheitern und pflegen?"

Im Unterschied zu ihrer ungleich bekannteren "Schwester" Effi Briest und Madame Bovary begeht Agathe Heidling keinen Ehebruch; sie ist, wie Tobias Schwartz in seinem aufschlussreichen Nachwort schreibt, keine Femme fatale, sondern eine Femme fragile, nach zeitgenössischem Urteil eine Hysterikerin, nach heutiger Diagnose wohl schlicht depressiv.

Im Untertitel weist Reuter ihren Roman als "Leidensgeschichte eines Mädchens" aus. Diese hat freilich nichts vom tragischen Pathos, mit dem noch Goethe seine "Leiden des jungen Werthers" ausgestattet hatte, sondern wird als Geschichte weiblicher Selbstentmächtigung erzählt. Letztendlich schlägt Agathe alle Emanzipationsangebote aus, vermag sich nie zu offener Opposition gegen ihre bourgeoise Herkunftsfamilie aufzuraffen. Als das junge Dienstmädchen der Heidlings verzweifelt gesteht, vom Sohn des Hauses sexuell missbraucht zu werden, lässt Agathe ein Schloss an deren Schlafkammer anbringen -und hält den Mund.

In dieser Rezension ebenfalls besprochen:

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