

Die Vermessung der Ära Faymann
Barbaba Tóth in FALTER 31/2024 vom 31.07.2024 (S. 20)
Der 1. Mai 2016 ging in die Geschichte der SPÖ ein als der Tag, an dem alle Konventionen brachen. Nicht einmal einen Abgang in Würde gönnten seine Kritiker Werner Faymann, der seit 2008 die Partei anführte und ihr das Kanzleramt sicherte. "18 Niederlagen sind genug","Anstand statt Notstand","Der Wetterhahn dreht sich mit dem Wind. Der Werner mit der Krone","Rücktritt" und "Parteitag jetzt" hielten ihm die roten Jugendorganisationen bei der traditionellen Parteikundgebung auf dem Wiener Rathausplatz auf Plakaten entgegen. Dazu gab es ein Pfeifkonzert während seiner Rede.
Hätten sie genauso gehandelt, wenn sie gewusst hätten, dass mit Faymanns Abgang auch die letzte längere Phase der Stabilität in der österreichischen Innenpolitik enden würde? Acht Jahre an der Macht, acht Jahre Kanzler -so viel Kontinuität gab es davor nur unter "Bruno Kreisky und Franz Vranitzky" und davor "Leopold Figl und Julius Raab", schreibt der kürzlich verstorbene Historiker Robert Kriechbaumer in seiner monumentalen Dokumentation der "Ära Faymann" anerkennend. Einerseits. Denn andererseits, wie er im Untertitel "Zwischen Krisenbewältigung und Stillstand" gleich anklingen lässt, blieb Faymanns Zeit ein wenig gesichtslos.
Oder wie es der Vize-Chefredakteur der Salzburger Nachrichten, Andreas Koller, 2012 formulierte: Faymann wisse, "wie man Kanzler wird und wie man Kanzler bleibt. Ob er auch weiß, was man als Kanzler tut, scheint zweifelhaft". Denn selbst "penible Beobachter des Zeitgeschehens" wüssten nicht, "wofür der Mann eigentlich steht, außer für das Ziel, Kanzler zu bleiben".
Wenn es um Urteile geht, greift Kriechbaumer bevorzugt auf Zitate der bürgerlichen Presse zurück. Der Falter - Faymann durchaus kritisch gesinnt, vor allem, wenn es um sein Naheverhältnis zur Krone und seine Inseratenpolitik geht - kommt im Quellenverzeichnis nicht vor.
Wer sich auf den über 1500 Seiten eine tiefe Analyse der Ära Faymann erwartet, findet sie nicht. Kriechbaumer hat vielmehr die erste beeindruckend aufbereitete Anthologie der Faymann-Jahre verfasst, übersichtlich nach Politikfeldern und Legislaturperioden gegliedert. Band eins widmet sich den Regierungsjahren 2008-2013, Band zwei der Zeit bis 2016 bis zu jenem tragischen 1. Mai. Auch sie waren schon dominiert von Krisen, die ihren Ursprung nicht in Österreich hatten, allen voran die Finanz-und Wirtschaftskrise (2008) und die Flüchtlingsversorgungskrise (2015).
Nur in einem kurzen Vorwort -eine Zusammenfassung oder ein Schlusswort gibt es nicht, vielleicht auch, weil ihn seine schwere Krankheit am Fertigarbeiten hinderte -skizziert Kriechbaumer, was seiner Meinung nach die Amtszeit Werner Faymann ausmacht. Er habe "menschliche Qualitäten" gehabt, im Gegensatz zu seinem Vorgänger Alfred Gusenbauer "sprach er mit seinen Gesprächspartnern auf Augenhöhe, konnte Empathie vermitteln und besaß ein Gefühl für Stimmungen". Innerparteilich sieht Kriechbaumer Faymann als "Marionette" von ÖGB und AK, den eigentlichen Machtzentren der "syndikalistischen" SPÖ. Auch Faymanns Abhängigkeit vom Boulevard, allen voran der Familie Dichand (Krone, Heute), und seinen problematischen Umgang mit Inseraten in den Jahren 2007 und 2008 noch als Verkehrsminister arbeitet er heraus.
"Die Ära Faymann" ist kein Buch, das man von vorne bis hinten in einem durchliest. Aber als Handbuch, zum Nachschlagen und Vertiefen, ist es jetzt schon ein Standardwerk.