

Sesshaftwerdung unter Schafen
Peter Iwaniewicz in FALTER 39/2010 vom 01.10.2010 (S. 51)
Wussten Sie, dass Transhumanz eine Form der Fernweidewirtschaft mit jahreszeitlichem Wechsel der Weidegebiete ist? Dass weltweit 1,03 Milliarden Schafe existieren? Dass Färöer-Inseln übersetzt Schafsinseln bedeuten und auch das Landeswappen ein Schaf zeigt? Dass bukolische Dichtung Literatur ist, die sich auf das Leben der Rinder- oder Schafshirten bezieht?
Monografien über Haustiere werden von den Verlagen gerne genommen, weil viele Menschen emotionale und kulturelle Bezüge zu den Nutzhaustieren (Rind, Pferd, Schwein etc.) und den sogenannten Freudenhaustieren wie Hund und Katze haben.
In der inhaltlichen Qualität der Bücher zeigen sich dann aber oft große Unterschiede. Nicht selten finden sich dabei zufällige Ansammlungen von Daten und Fakten zu dem jeweiligen Tier, die dem Leser aber ohne erklärenden und interpretierenden Zusammenhang vorgesetzt werden.
Die vorliegende Publikation des Ötztaler Autors, Volkskundlers und streitbaren Bergbauern Hans Haid zählt hingegen zu den eher raren, umfassenden und wirklich gebildeten Auseinandersetzungen mit einer Tierart, die nicht nur den Alpenraum in seiner Entwicklung über Jahrtausende wesentlich geprägt hat: dem Schaf. Diese wiederkäuenden Paarhufer stehen in unserer Wahrnehmung zwar am Rand und scheinen im Vergleich zu Kühen und Schweinen keine große wirtschaftliche Bedeutung mehr zu haben, aber ihre kulturelle Präsenz zeigt uns ein anderes Bild.
Schafe begegnen uns als das geduldige "Lamm Gottes", während wir selbst in der christlichen Religion dem "guten Hirten" gleichkommen sollen. Das Schaf nährt und wärmt uns, gibt Wolle, Fleisch, Milch, Loden, Filz, Mist und Lanolin. In der bukolischen Dichtung wird das Schaf hymnisch besungen. Weihnachtliche Hirten- und Krippenlieder sind wichtiger und klingender Teil unserer alpinen Kultur. Am Himmel zählen wir die "Schäfchenwolken". Außenseiter nennen wir "schwarze Schafe". Wir halten "Schäferstündchen", suchen Schutz gegen die "Schafskälte" und sind "lammfromm". Dann bringen wir "unsere Schäfchen ins Trockene" und warnen vor dem "Wolf im Schafspelz".
Der Ökologe Josef Reichholf hat in einer Studie über die neolithische Revolution, "Warum die Menschen sesshaft wurden" (2008), die These aufgestellt, dass erst der Besitz von gezähmten Schafherden die Sesshaftwerdung ermöglicht haben soll. Im Unterschied zu Pferden und Rindern war der Umgang mit Schafen für die Hirten leichter und weniger gefährlich. Auch im Alten Testament steht das Schaf an der Wurzel der Zivilisation: Adams und Evas Söhne, Kain und Abel, repräsentieren die durch Sesshaftigkeit gekennzeichnete Kultur des Ackerbaus und die Hirten- und Nomadenkultur. Der vorbildliche, von Gott für sein Opfer mehr geliebte Abel war Schafhirt.
Wie stark sich die Form der Tierhaltung auf die Lebenskultur auswirkt, zeigt das Beispiel der Transhumanz (frz. transhumer, lat. trans und humus: "Gegend"): Schaf- und Rinderbauern wandern mit ihren Herden im jahreszeitlichen Rhythmus von den im Tal gelegenen Winterweiden bis zu den hochgelegenen Bergweiden, wo sie und früher auch ihre Familien den Sommer verbringen.
Reste dieser halbnomadischen Lebensweise sind auch heute noch in Westösterreich anzutreffen und werden in den Gemeinden als touristisches Spektakel zum Almabtrieb entsprechend inszeniert.
Der Ethologe Haid hat in fast enzyklopädischer Form Mythen, Brauchtümer, Rassen, Verwertungsweisen, Begriffe, Zitate und Ausdrücke zusammengetragen, sorgfältig sortiert und feinsinnig kommentiert, sodass man immer wieder mit Überraschung auf neue Aspekte eines ganz "gewöhnlichen" und scheinbar vertrauten Haustiers stößt.
Ein wunderbares Buch, das uns unsere kulturellen Wurzeln und die enge Verbundenheit zu unseren tierischen Lebensgrundlagen aufzeigt.