

Sebastian Fasthuber in FALTER 42/2022 vom 21.10.2022 (S. 34)
Wie viele Seiten Anlaufzeit bekommt ein Roman, ehe man ihn weglegt? Die Schweizerin Bettina Scheiflinger, die fürs Studium der Sprachkunst nach Wien kam, hat ihr Debüt perspektivenreich angelegt. Es braucht 30 Seiten, bis man den Durchblick über die Figuren hat. Ab dann erweist sich "Erbgut" als fesselnde Lektüre.
Fünf Stimmen aus drei Generationen erzählen, die Zeit reicht vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart. Die Ich-Erzählerin trägt die Summe der Erfahrungen und Eigenschaften ihrer Großmütter sowie der Eltern in sich. Die junge Frau arbeitet an ihrer Abnabelung. Was bekommt man vererbt, was nimmt man gerne an, was lieber nicht? Diesen Fragen geht der Roman in einer feinen Prosa nach. Scheiflinger (Jg. 1984) hat keinen dicken Familienwälzer geschrieben, es wird nicht alles auserzählt, vieles bleibt Andeutung.