

Ist die Geschichte eine Lehrmeisterin?
Thomas Walach in FALTER 41/2018 vom 12.10.2018 (S. 39)
Philosophie: Rudolf Burger legt zur Unzeit einen überarbeiteten geschichtsphilosophischen Essay vor
Am 17. Juli 2003 hielt Tony Blair eine Rede vor dem US-Kongress. Dabei fiel ein bemerkenswerter Satz: „Niemals gab es eine Zeit, in der die Geschichte so wenig Lehren für die Gegenwart bot wie heute.“ Rudolf Burger würde dem wohl zustimmen.
Seine These lautet, dass sich aus der Geschichte gar nichts lernen lässt. Burgers Frage „Wozu Geschichte?“ ist nicht neu – sie wurde schon von Friedrich Schiller in dessen Antrittsvorlesung 1789 als Geschichtsprofessor in Jena gestellt –, und Burgers gleichnamiges Buch ist es ebenfalls nicht. Es handelt sich um die sacht überarbeitete Neuauflage eines 15 Jahre alten Essays. Beim Lesen kann man mit Erstaunen feststellen, dass Burgers Überlegungen wissenschaftlich noch immer anschlussfähig sind, während sich die Welt rundherum gehörig verändert hat.
Rudolf Burger erarbeitete sich in den 1990er-Jahren seinen Ruf als Enfant terrible unter den politischen Kommentatoren des Landes. Damals fiel der Philosophieprofessor und spätere Rektor der Universität für angewandte Kunst durch seine unbändige Lust auf, den öffentlichen Diskurs gründlich gegen den Strich zu bürsten. Österreichs Außenpolitiker, allen voran Alois Mock, nannte er im Profil wegen ihrer wohlwollenden Haltung zu den Unabhängigkeitsbestrebungen Sloweniens und Kroatiens „kriegsgeile Kiebitze“.
Die Institutionen des Staates, besonders der ORF mit seinem „Scharfmacherbubi“ Paul Schulmeister, seien von historisch bedingten antiserbischen Ressentiments getrieben. Im Jahr 2000 bezeichnete Burger die Demonstrationen gegen Schwarz-Blau als „antifaschistischen Karneval“, Kritikern wie Hans Rauscher richtete er aus: „Moralische Empörung ist jene Strategie, die selbst einem Idioten Würde verleiht.“
Es überrascht also nicht, wenn der notorische Krawallmacher Rudolf Burger einen geschichtstheoretischen Essay mit dem Postulat beginnen lässt, man könne aus dem Holocaust keine Lehren für die Gegenwart ziehen. Burger deswegen unter jene konservativen bis stramm rechten Protagonisten des deutschen Historikerstreits einzureihen, die wie Ernst Nolte über eine „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, klagten, wäre aber voreilig.
Zwar stellte Burger schon zuvor der Metapher Michael Stürmers vom „steinernen Gast aus der Vergangenheit“ seine eigene vom „mumifizierenden Gedenken“ an den Holocaust zur Seite. Doch Burgers Kritik ist so unpolitisch, wie Geschichte eben sein kann – jedenfalls ist sie nicht dadurch motiviert, einem erstarkenden Nationalismus mit historischen Argumenten das Wort zu reden.
Joachim Gaucks Befund, es könne keine deutsche Identität ohne Auschwitz geben, würde Burger wohl nicht widersprechen, denn: „Jede Gemeinschaft definiert sich über eine Geschichte, die eine moralische Verpflichtung auferlegt.“ Bloß ist diese Art historischer Identität in Burgers Augen auf Sand gebaut. „Wozu Geschichte?“ ist der Versuch, Ciceros Bild von der Geschichte als Lehrmeisterin für das Leben als Phantasma zu entlarven.
Dazu macht sich Burger auf einen Parforceritt durch die Geschichte der Geschichtswissenschaft, der an profunder philosophischer Kenntnis und Gelehrsamkeit kaum zu überbieten ist. Leicht verdaulich ist das nicht. In irrwitzigem Tempo springt Burger von Hegel und Marx zu Nietzsche, Karl Löwith, Theodor W. Adorno und wieder zurück. Bei Giambattista Vico verweilt Burger länger – den Überlegungen dieses neuzeitlichen Vaters der Geschichtsphilosophie widmet er ein ganzes Kapitel.
Rudolf Burgers Überlegungen kreisen um das zentrale Axiom, dass „die Geschichte“ als Summe vergangenen Geschehens grundsätzlich unzugänglich ist. Geschichte, das ist für Burger eine grobe Verallgemeinerung, unter der alle denkbaren Vorstellungen über Vergangenheit zusammengefasst werden sollen. Ein Ding der Unmöglichkeit, „denn selbst die unmittelbare, sinnliche Gegenwart, die doch unbestreitbar da ist in ihrer prallen Faktizität, wird von jedem Menschen perspektivisch anders erlebt – und deshalb streiten sie.
Und da sollten sie sich je einig werden über die Vergangenheit, die noch dazu voller Löcher ist?“ Darum, so Burger, tauge die Geschichte nicht als Lehrerin. „Die Geschichte rechtfertigt, was immer man will. Sie lehrt schlechterdings nichts, denn es gibt nichts, was sich mit ihr nicht belegen ließe.“ In dieser Schlussfolgerung Burgers liegt eine große Gefahr.
In Zeiten, da Revisionismus, Relativierung und Geschichtsleugnung in Europa fröhliche Urstände feiern, wird philosophisch fundierter Nihilismus – und sei er noch so gelehrt – zum moralischen Defätismus. Was vor 15 Jahren als intellektuelle Spielerei durchgehen mochte, ist heute blanke Provokation. Dass die Geschichte unterschiedliche Perspektiven zulässt, heißt schließlich noch lange nicht, dass jede dieser Sichtweisen gleichermaßen nützlich oder dem Zusammenhalt freier Gesellschaften zuträglich ist. Insofern wirkt der Essay des Philosophen, der im Dezember seinen 80. Geburtstag feiert, wie aus der Zeit gefallen, ist ein ungemein gelehrtes, aber kein kluges Buch.
Burgers Text ist keineswegs, wie im Untertitel behauptet, eine „Warnung zur rechten Zeit“, sondern kommt gerade zur Unzeit. Soll man das also (wieder) lesen? Schon. Die intellektuelle Qualität von Burgers Essay macht ihn jedenfalls als Reibebaum lesenswert. Aber muss man auch Burgers Schlüssen folgen, während zur selben Zeit Nazis wieder auf deutschen Straßen marschieren? Bestimmt nicht – dafür steht zu viel auf dem Spiel.