

Das kulturelle Aushänge-schild des Nazi-Regimes
Thomas Leitner in FALTER 43/2020 vom 23.10.2020 (S. 46)
Biografie: Baldur von Schirach war ab 1940 Hitlers Reichsstatthalter in Wien. Oliver Rathkolb widmet ihm ein Porträt
Ein schmaler Band von Michael Wortmann, erschienen 1982 und längst vergriffen, war bisher die einzige Monografie über eine der schillerndsten Figuren unter den NS-Politikern. Das verwundert, diente Baldur von Schirach doch als kulturelles Aushängeschild des Regimes und wirkte, als jugendliches Antlitz der „Bewegung“, wie ein Vorläufer des heute so präsenten „Feschismus“ (Copyright Armin Thurnher). Gespannt erwartete man also die Biografie des prominenten Zeithistorikers Oliver Rathkolb, der sich schon lange mit der nationalsozialistischen Kulturpolitik beschäftigt.
In seiner Jugend in Weimar sog der 1907 geborene Baldur von Schirach eine Atmosphäre auf, die sich als das Weltgeist gewordene Erbe deutscher Klassik verstand, längst aber in provinziellen Verlustängsten erstarrt war. So bekam er ein gerüttelt Maß an Elitebewusstsein mit. Die Familienchronik trug ebenfalls dazu bei. Das im 18. Jahrhundert geadelte Pastorengeschlecht war in die wilhelminische Offizierskaste hineingewachsen. Schirachs Großvater wanderte in die USA aus und verdiente sich seine Sporen im Bürgerkrieg. Der Vater heiratete eine amerikanische Industriellentochter, einer ihrer Vorfahren war Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung. Zurück in Berlin und nach einer Militärkarriere wurde Carl von Schirach der letzte Intendant des Weimarer Hoftheaters.
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs brach die großbürgerlich-aristokratische Welt zusammen, elitäre Jugendbewegungen versuchten eine Neuorientierung und gleichzeitig die Rettung traditioneller Werte. Als der junge Baldur zum ersten Mal Hitler in Weimar sprechen hört, fällt das bei ihm auf fruchtbaren Boden, er sieht in ihm den Retter aus der deutschen Misere. Hitler seinerseits ist vom kulturellen Umfeld des Jünglings angetan.
In München beginnt Schirach zu studieren, sein Augenmerk liegt aber auf der Organisation der jugendlichen Massen, die er dem Nationalsozialismus zuführen will. Schnell überzeugen die charismatischen Fähigkeiten den „Führer“. Die steile Karriere beginnt mit dem Aufbau der Hitlerjugend und lässt ihn mit 24 Jahren zum Reichsjugendführer werden, dem unmittelbaren Befehl Hitlers unterstehend. Eleganz, Charme und Geschick im Ränkespiel der Parteienelite lassen ihn bald als Kronprinzen erscheinen.
Die Ernennung zum Reichsstatthalter und Gauleiter in Wien 1940 bringen Prestige, die Entfernung aus der unmittelbaren Umgebung des Führers bedeutet aber Verlust an politischem Einfluss. Bei allem kulturellen Glanz, Kontaktpflege zu Größen wie Richard Strauss und Gerhard Hauptmann ist Wien ein Abstellgleis. Die Mentalitätskonflikte verschärfen sich. Schirachs Stern, trotz des rücksichtslosen Mitwirkens bei den Judendeportationen, beginnt zu sinken.
Rathkolb betont die operettenhaften Elemente seiner Wiener Statthalterschaft und weist darauf hin, dass Schirachs „alt-österreichische Hochkulturoffensive“ maßgeblich dazu beigetragen habe, eine selbstkritische Aufbereitung der österreichischen Verantwortung am Faschismus, am Nationalsozialismus sowie am Holocaust zu unterbinden.
Schirach wird in den Nürnberger Prozessen zu 20 Jahren Haft verurteilt. Der Todesstrafe entgeht er durch eine geschickte Verteidigungsstrategie, in der er sich als „verführten Verführer“ darstellt und seine amerikanischen Wurzeln ins Treffen führt. Auch den Antisemitismus führt er auf überseeischen Einfluss zurück: Henry Fords Bestseller „Der internationale Jude“ (1920–22). Die sprachlichen Qualitäten des Buches können nicht ganz mit der hervorragenden Gestaltung des Bildmaterials mithalten. Gedankensprünge und Auslassungen, unnötige Wiederholungen und Listen – etwa die Aufzählung der Toiletten in der Wiener Residenz! – erschweren den Zugang zum eigentlich Wichtigen.
Rudi Klein in FALTER 43/2020 vom 23.10.2020 (S. 9)
Der Supernazi, der der Todesstrafe entging
„Solche jungen Männer braucht die Partei, braucht Deutschland!“ schmeichelte Adolf Hitler dem achtzehnjährigen angehenden Studenten der Germanistik und Kunstgeschichte, Baldur von Schirach. Als Reichsjugendführer schwört er die „Hitlerjugend“ auf die „braune Revolution“ ein und träumt von einem faschistischen Europa unter deutscher Führung. Beinahe gelingt ihm der Karrieresprung zum Kronprinzen des „Führers“. Als Gauleiter von Wien lässt er Juden in die Todeslager deportieren. 1946 wird er in Nürnberg zu zwanzig Jahren Haft verurteilt.