

Hitlers Wien, revisited
Barbara Blaha in FALTER 42/2022 vom 19.10.2022 (S. 23)
"Der Klassiker, komplett neu überarbeitet", steht auf dem Cover des Buches "Hitlers Wien". Im Jahr 1996 veröffentlichte die früh verstorbene Brigitte Hamann ihre akribisch recherchierte und glänzend erzählte Biografie der Wiener Jahre Adolf Hitlers, die zum Bestseller wurde. Erstmals lag eine kritische Entwicklungsgeschichte der prägenden Jahre Hitlers vor, gespiegelt vor dem speziellen, widersprüchlichen Wiener Milieu der damaligen Zeit.
Seitdem sind neue historische Quellen aufgetaucht, unter anderem durch die Volltextdigitalisierung des Tageszeitungsarchives der Österreichischen Nationalbibliothek. Die Plattform Anno ist übrigens frei zugänglich, ein unglaublicher Schatz für an Geschichte Interessierte. Andere Quellen werden inzwischen kritischer gesehen, allen voran die 1953 unter dem Titel "Adolf Hitler, mein Jugendfreund" erschienenen "Erinnerungen" von August Kubizek, die der Selbstverklärung Hitlers in seinem Propagandawerk "Mein Kampf" folgen. Auch Hamann zitierte Kubizek "weitgehend unkritisch", wie der Historiker Oliver Rathkolb in seiner Einleitung zu der von ihm und dem Historiker Johannes Sachslehner akribisch überarbeiteten Neuauflage anmerkt.
Stammte Hitler tatsächlich aus einer sehr armen Familie (nicht so sehr, wie er es selber behauptete), musste in Wien am Bau hackeln (kann nicht ausgeschlossen werden)? Diese Fragen, genauso wie die nach Hitlers Triebkräften, nach seinem Geniewahn und Gerüchten um seine (Homo-)Sexualität, die von seinen Konkurrenten innerhalb der NSDAP gestreut wurden, haben Rathkolb und Sachslehner auf dem aktuellen Stand der Forschung neu bewertet. Rund 15 Prozent der Neuauflage wurden dabei von Sachslehner neu verfasst, Hamann in wichtigen Bereichen, etwa der Frage, wann Hitler zum Antisemiten wurde (durchaus in Wien, was Hamann anders bewertete), korrigiert, ohne ihre Leistung als Historikerin und Erzählerin zu schmälern.