

Nietzsche aus dem Mund von Pippi Langstrumpf
Klaus Nüchtern in FALTER 44/2023 vom 01.11.2023 (S. 26)
Zitate machen sich immer gut: in Reden und Büchern, auf Glückwunschkarten und Grabsteinen. Sie sind ein Teil des Datenstroms, der sich tagtäglich rund um die Welt wälzt und naturgemäß auch Treibgut fragwürdiger Provenienz mit sich führt. So kursieren auch Abertausende korrumpierter, entstellter, frei erfundener und falsch zugeschriebener Zitate.
Zumindest "Die besten falschesten Zitate aller Zeiten" zu identifizieren hat sich Gerald Krieghofer in seinem gleichnamigen Buch zur Aufgabe gemacht. Krieghofer ist ein intimer Kenner des Schriftstellers und Publizisten Karl Kraus (1874-1936), dessen Werk er als Mitarbeiter der Österreichischen Akademie der Wissenschaften aufgearbeitet und neu ediert hat. In seinem so klugen wie kurzweiligen Buch hat er über zwei Dutzend Aussprüche berühmter Persönlichkeiten -von Karl Kraus bis Hannah Arendt, von Sigmund Freud bis Pippi Langstrumpf -gesammelt, die die Genannten niemals von sich gegeben haben.
Falter: Herr Krieghofer, Sie sind Parömiologe. Wie lange gibt es diesen Berufszweig schon?
Gerald Krieghofer: Die Zitatforschung, wie ich sie betreibe, kann man als Teil der Parömiologie, also der Sprichwortforschung, verstehen, und die ist schon sehr alt. In Europa geht sie wohl auf Erasmus von Rotterdam zurück.
Haben Sie Vorläufer?
Krieghofer: Im deutschen Sprachraum war es Georg Bachmann, der unter den vielen entstellten Klassikerzitaten gelitten hat und mit einem Netzwerk an Gymnasialprofessoren diese "Geflügelten Worte" berichtigt und gesammelt hat. Heute gibt es ein weltweites Netzwerk von Zitatforschern, mit denen ich kooperiere.
Der Begriff des "Kuckuckszitats" ist aber noch sehr jung. Krieghofer: Den hat jemand, dessen Klarnamen unbekannt ist, vor etwa vier Jahren auf Twitter lanciert, und ich habe ihn dankbar übernommen.
Der Falter-Fotograf Heribert Corn und ORF-Journalist Rainer Hazivar kommen an den Tisch (das Gespräch findet im Café Bräunerhof statt).
Heribert Corn (zu Krieghofer): Der Rainer hat gerade erzählt, dass Sie gestern dazwischengegrätscht sind
Rainer Hazivar: Das war mein Lieblingsmoment heute früh, dass Sie das Aristoteles-Zitat, das Finanzminister Magnus Brunner in seiner Rede verwendet hat, als falsch aufgedeckt haben.
Krieghofer: Er hat gesagt: "Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel richtig setzen."
Von wem stammt das Zitat tatsächlich? Krieghofer: Von einer 19-jährigen Spiritualistin aus dem Jahr 1859. Der Satz wurde in der englischen Literatur immer wieder zitiert, und im 21. Jahrhundert plötzlich Aristoteles zugeschrieben.
Das Wesen des Kuckuckszitates besteht darin, dass man es jemandem unterschiebt?
Krieghofer: Ja, ich vermute, dass 80 Prozent von ihnen unabsichtlich falsch zugeschrieben werden. In der politischen Debatte wird es allerdings oft auch bewusst gemacht: Man sagt irgendeinen Blödsinn, behauptet, er stamme von Bismarck, und erschwindelt sich dadurch Autorität.
Und wie lange beschäftigen Sie sich schon mit Kuckuckszitaten?
Krieghofer: Fast zehn Jahre. Ich habe in der Akademie der Wissenschaften lange zu Karl Kraus geforscht und viele Anfragen zu Kraus-Zitaten bekommen. Die berühmtesten Kraus-Zitate sind keine: Weder "Was Deutschland und Österreich trennt, ist die gemeinsame Sprache" noch "Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten" sind von Kraus.
Und woher kommen die dann? Krieghofer: Das mit den Zwergen geht zurück bis in die 1970er-und 80er-Jahren und stammt aus einer Werbekampagne für die Presse.
Ausgerechnet! Krieghofer: Ich habe dem schon immer misstraut, allerdings war das noch vor der Digitalisierung. Mithilfe dieser aber kann man klar beweisen, dass es kein authentisches Kraus-Zitat ist. Als ich dann auf Twitter gesehen habe, dass praktisch jeden Tag falsche Zuschreibungen auftauchen und es im deutschsprachigen Raum niemanden gibt, der das systematisch aufarbeitet und dokumentiert, habe ich den Job übernommen und mein Forschungsfeld schließlich auf alle Zitate ausgedehnt.
Ist es nicht auch sehr anstrengend, ein Krausianer zu sein?
Krieghofer: Ich selbst bezeichne mich ja nicht als solchen. Zum Beispiel bin ich mit Walter Schübler, dem Herausgeber von Anton Kuh, befreundet. Ein echter Krausianer wäre das nicht. (Der österreichische Journalist, Kritiker und "Sprechsteller" Anton Kuh [1890-1941] hatte sich die "Frotzelung des Kraus" zum Steckenpferd gemacht, Red.).
Hat Karl Kraus je falsch zitiert? Krieghofer: Schübler behauptet Ja.
Was an Kraus nerven kann, ist der Habitus des Weltenrichters. Sie aber lehnen den Begriff "Zitatejäger" ab?
Krieghofer: Ja. Es geht mir wirklich nicht darum, jemanden zu blamieren. Wenn allerdings die deutsche Politikwissenschaftlerin und Publizistin Frau Professor Ulrike Guérot was falsch zitiert, dann erwähne ich sie auch, weil das ist einfach zu viel. Oder der ehemalige Präsidentschaftskandidat Tassilo Wallentin: Der hat in der Kronen Zeitung über Jahre irgendeinen Blödsinn aus einer rechten Zeitung mit einem "wie schon sagte" versehen und jemand Berühmtem in den Mund gelegt.
Sie schreiben auch, dass heute nicht mehr aus bildungsbürgerlicher Beflissenheit zitiert wird. Was hat sich da geändert? Krieghofer: Die Leute, die Reden für Politiker und Manager schreiben, wollen sich einer Autorität versichern. Und schlechte Journalisten, die nur langweilig sind, holen sich über das Zitat dann wenigstens einen Satz mit Witz und Rhythmus in ihre Artikel. Oder denken Sie beispielsweise an Wohngemeinschaften, wo in jedem Zimmer irgendwelche Sprüche an der Wand hängen: Das ist nicht Angeberei, sondern man tut damit etwas kund. Ich möchte mich auch nicht lustig über Leute machen, die ihre Sprachlosigkeit darüber, dass die Tochter jetzt geheiratet hat oder jemand gestorben ist, mit irgendeinem tiefsinnigen Zitat kaschieren.
Sie zitieren in Ihrem Buch allerdings auch ein Rundschreiben der Direktion anlässlich der Matura Ihrer Tochter, in dem von fünf Zitaten vier falsch sind. Krieghofer: Ja, das war die Bestätigung dafür, dass mein Gefühl, wir würden von Kuckuckszitaten überflutet, doch nicht völlig wahnhaft ist.
Wie viele Anfragen bekommen Sie mittlerweile?
Krieghofer: Fast jeden Tag. Aber die meisten sind sehr schnell beantwortet. Wenn eine Moderatorin sich am Nachmittag meldet und nachfragt, ob sie dieses oder jenes Zitat am Abend verwenden kann, gebe ich gerne mit meinem Wissen an.
Das ließe sich doch kapitalisieren?
Krieghofer: Das hat mir der berühmte Plagiatsjäger Stefan Weber auch schon gesagt, aber mir ist das unangenehm. Man kann mich finanziell unterstützen, aber fünf oder fünfzig Euro für eine Auskunft zu verlangen wäre mir peinlich.
Neben den schnell beantworteten Fragen gibt es aber doch sicher auch noch anhängige Fälle?
Krieghofer: Ich habe hunderte Zitate, deren Herkunft noch nicht ausrecherchiert ist. Am schwierigsten sind oft einfache Sachen, die aber nicht digitalisiert sind. Sehr aufwendig war ein völlig vertrottelt verfälschtes Weizsäcker-Zitat, das sich angeblich in einer Auflage eines Buches von 1993,1994 oder 1995 findet. Um sowas zu überprüfen, muss man in verschiedene Bibliotheken gehen. Da muss man dann wirklich Bücher durchblättern.
Das vielfach falsch zitierte und zugeschriebene "Der Weg entsteht im Gehen" wurde von Alfred Gusenbauer korrekt verwandt. Krieghofer: Ja, das ist ein berühmtes Zitat des spanischen Dichters Antonio Machado. Und Gusenbauer kann Spanisch.
Sie auch? Krieghofer: Nicht wirklich. Bei fremdsprachigen Zitaten hilft mir Google Translate, außerdem existieren sehr viele in einer englischen Variante.
Wie gehen Sie bei Ihren Recherchen vor?
Krieghofer: Ich schaue auf Google und in Zeitungssuchmaschinen, wann die Zuschreibung zum ersten Mal auftaucht -und zwar nicht nur auf Deutsch. Und wenn ich sehe, dass es ein "Aristoteles-Zitat" erst seit 20 Jahren gibt, dann fängt mein Vergnügen an und ich dokumentiere die Genese.
Auch hier entstehen die Wege im Gehen? Krieghofer: Stimmt. Und es ist schon unglaublich, welche Wege Zitate nehmen, sodass man zum Beispiel solche von Pippi Langstrumpf bis zu Nietzsche zurückverfolgen kann oder ein vermeintliches Brecht-Zitat zur deutschen Grün-Abgeordneten Petra Kelly, die dabei ihrerseits beansprucht, Papst Leo XIII. zu zitieren.
Manche Kuckuckszitate sind unglaublich doof, viele aber auch witzig und glaubhaft.
Krieghofer: Ja, manche bekommen schon die Zitate untergeschoben, die sie verdienen. In den USA landet jedes gute Bonmot irgendwann einmal bei Mark Twain, und im deutschsprachigen Raum sind es Karl Valentin und Kurt Tucholsky.
Auch "Wer Visionen hat, braucht einen Arzt" ist gut. Wer auch immer es nun erfunden hat.
Krieghofer: Das war eine aufwendige Recherche. Der Journalist Christoph Kotanko, damals bei Profil, hat das Zitat Franz Vranitzky zugeschrieben, der es aber schon am nächsten Tag abgestritten hat. Auch Helmut Schmidt, dem es gleichfalls unterstellt wurde, hat es zunächst abgestritten, mit 90 aber dann bestätigt.
Und er hat es sicher geglaubt!
Krieghofer: Ja, klar. Wenn mir heute jemand unterstellt, dass ich einen wirklich guten Witz gemacht habe und ich das hunderte Male lese, glaube ich es mit 90 auch. In dem Fall habe ich mich in den Archiven der Sozialdemokratie umgesehen und herausgefunden, dass diesen Ausspruch, der bereits 1988 zum ersten Mal zitiert worden ist, vor 1994 niemals Helmut Schmidt zugeschrieben wurde.
Hat nicht der Philosoph Rudolf Burger das Bonmot für sich reklamiert?
Krieghofer: Er hat behauptet, einmal einen ähnlichen Witz im Café Landtmann gemacht zu haben. Das kann schon sein. Das Zitat dürfte jedenfalls tatsächlich aus dem Wien der 1980er stammen.
Ich finde, dass Sie das berühmte Hannah-Arendt-Zitat, "Niemand hat das Recht zu gehorchen", das sie so eben nie gesagt hat, zu streng behandeln. Krieghofer: Wenn Sie das einem Feuerwehrmann sagen, der gerade seinen Einsatzbefehl bekommen hat? Das macht doch keinen Sinn!
Es ist doch klar, dass sich das nicht auf pflichtbewusste Feuerwehrmänner bezieht, sondern gegen jene richtet, die Schandtaten begehen und dann "nur ihre Pflicht getan" haben wollen. Krieghofer: In dem Interview mit Hannah Arendt, in dem dieser Satz, den sie so nie gesagt hat, fällt, geht es um Adolf Eichmann, der sich auf Kants kategorischen Imperativ beruft. Wenn man diesen Kontext weglässt, dann wird das zu einem Slogan wie "Red Bull verleiht Flügel".
Ein Spezialfall ist das Fußballer-Zitat. Krieghofer: Da muss ich zugeben, dass ich auf die Recherchearbeit anderer zurückgegriffen habe.
Der deutsche Kicker Andreas Möller ist allerdings der Einzige in Ihrem Buch, von dem Sie keine authentischen Zitate anführen. Krieghofer: Habe ich die bei ihm ganz weggelassen? Haben Sie. Das Hans-Krankl-Zitat "Alles andere ist primär" ist aber authentisch? Krieghofer: Ich bin in dieser Welt nicht so zuhause, er hat es aber meines Wissens nie abgestritten.
Das Peter-Pacult-Zitat "Rapid hat noch eine Obduktion auf mich" ist verbürgt?
Krieghofer: Weiß ich nicht, aber es ist herrlich! So wie der Ausspruch, den Jan Böhmermann Lukas Podolski untergejubelt hat: "Fußball ist wie Schach nur ohne Würfel." Das ist genial. Ich glaube allerdings, dass fast jeder in der Lage ist, ein-, zweimal im Leben was Geniales zu sagen.
Nur schreibt leider niemand mit. Krieghofer: Und wenn doch, wird es ein paar Jahre später irgendjemandem Berühmten unterschoben.
Und es ist immer verdächtig, wenn der oder die schon ziemlich lange tot ist?
Krieghofer: Ja, das ist das klassische Indiz für ein Kuckuckszitat. Der Schriftsteller Gustav Janouch hat 1920 als 17-jähriger Gymnasiast ein paar Spaziergänge mit Kafka unternommen und 1951, als Kafka weltberühmt und schon ziemlich lange tot war, sind ihm unglaublich viele Zitate eingefallen, die er dann in seinem Buch "Gespräche mit Kafka" festgehalten hat. Er hat allerdings nie Tagebuch geführt und wird in der Kafka-Forschung nicht sehr ernst genommen.
Sind es wenigstens gute Zitate? Krieghofer: Nein, furchtbare Kalendersprüche. Sachen wie: "Jeder, der sich die Fähigkeit erhält, Schönes zu erkennen, wird nie alt werden."
Gibt es so etwas wie den Heiligen Gral unter den Kuckuckszitaten?
Krieghofer: Den darf man natürlich nie finden. Aber eine tolle Sache war das berühmteste Mahler-Zitat: "Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers."
Ich kenne das mit Zuschreibung zu Adolf Loos. Krieghofer: Die stimmt auch nicht.
Aber wie kann man verbindlich feststellen, dass es nicht von Gustav Mahler stammt?
Krieghofer: Ich habe mich natürlich an die Mahler-Gesellschaft gewandt; die dort waren zunächst ganz schockiert, weil sie dieses Zitat auch hochgehalten haben. Es geht aber eindeutig auf den 1914 ermordeten Reformsozialisten Jean Jaurès zurück, der zu einem konservativen Antisemiten so etwas gesagt hat wie: "Wir verehren nicht nur die Glut im Herzen, wir tragen das Feuer auch weiter."
Wenn man, so wie Sie, ständig Anfragen bekommt, lernt man sicher eine Menge?
Krieghofer: Ja, ich habe zum Beispiel einmal eine Anfrage zu Bruce Lee (Schauspieler und Martial-Arts-Ikone, 1940-1973, Red.) bekommen. In der Bruce-Lee-Gemeinde, die noch autoritätsgläubiger ist, als Krausianer es sind, zirkulierte folgendes Zitat: "Knowing is not enough; we must apply. Willing is not enough; we must do." Das ist aber eindeutig eine Übersetzung aus Goethes "Wilhelm Meister", wo es heißt: "Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen, man muss auch tun."