
Globale Ideenschmiede
Oliver Hochadel in FALTER 42/2024 vom 16.10.2024 (S. 40)
Im Oktober 1956 eröffnete im US-Bundestaat Minnesota die Southdale Mall, 72 Läden unter einem Dach. Das moderne Einkaufszentrum war geboren, vier Jahre später gab es bereits 4500 davon. Da amerikanische Städte meist keinen historischen Stadtkern haben, wollte Victor Gruen (geboren 1903 in Wien) nicht nur einen kommerziellen Raum schaffen, sondern auch einen Ort der Geselligkeit, inklusive kultureller Angebote. Der Architekt der Southdale Mall verschmolz „seinen Wiener Sozialismus mit dem amerikanischen Kapitalismus“ und veränderte nicht nur das Einkaufen, sondern auch die städtische Geografie weltweit, so Richard Cockett in seinem Buch „Stadt der Ideen“.
Der Untertitel „Als Wien die moderne Welt erfand“ mag zugespitzt wirken, der britische Journalist (The Economist), des Lokalpatriotismus unverdächtig, meint es aber ernst. Und nach über 400 Seiten voller Beispiele für Innovationen made in Vienna tut man sich schwer, ihm zu widersprechen.
Das Panorama, das Cockett auffächert, besteht aus drei Teilen: ein kürzerer Teil zu Wien um 1900, ein zweiter zu Aufstieg und Fall des Roten Wien in der Zwischenkriegszeit sowie ein abschließender Teil zum globalen Wirken von Wiener Migranten bis weit in die Nachkriegszeit hinein.
Das intellektuell fruchtbare Milieu Wiens vor 1934/38 ist schon seit Jahrzehnten ein Topos, und viele der Innovationsleistungen sind im Wesentlichen bekannt. Aber noch niemand hat all dies so umfassend und vor allem so konsistent zusammengefasst wie Cockett.
Cockett, qua Profession ein flotter Schreiber, aber auch ausgebildeter Historiker, liefert weit mehr als eine Aneinanderreihung von Kurzbiografien, die Werdegang und Wirken bedeutender Denker und Erfinder skizzieren. Er verfolgt durchgehend die Frage: Warum in Wien? Aufgrund welcher historischen Konstellationen konnte die Stadt zu einer globalen Ideenschmiede werden? Dafür liefert er eine Reihe von miteinander vernetzten Antworten.
Der intellektuelle Grundstein war das Wien des Fin de Siècle mit seiner umfassenden Idee der Bildung, wesentlich getragen vom assimilierten jüdischen Bürgertum. In den Salons und Kaffeehäusern wurde eine fruchtbare Interdisziplinarität praktiziert: Musik, Literatur und bildende Kunst waren dort genauso Thema wie die neuesten Ideen in Medizin, Biologie, Physik, Recht und Ökonomie. Der Austausch von Ideen funktionierte zwanglos. „Die Gesellschaft Wiens gedieh eben, weil sie erfrischend offen für Gruppen war, die bis dahin weitgehend von der kulturellen und geistigen Produktion ausgeschlossen gewesen waren: Frauen, Juden und eine Vielzahl ethnischer Gruppen aus dem vielgestaltigen Habsburgerreich.“
Der Übergang zur Praxis gelang aber erst in der Zwischenkriegszeit, so Cockett. Gestützt auf neueste Erkenntnisse aus der Psychologie und in Wien entstehende Disziplinen wie der Konjunkturforschung und der empirischen Sozialforschung sollte die Gesellschaft umgestaltet werden. Sozialer Wohnungsbau, Kleinkindpädagogik, Sexualerziehung und Frauenrechte wurden im Roten Wien propagiert und praktiziert.
Wien war bekanntlich schon seit Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur ein Nährboden progressiver Ideen, sondern auch eine Hochburg des Antisemitismus. Der Austrofaschismus und vor allem die Nationalsozialisten ab 1938 verfolgten die liberalen und linken Wiener Köpfe gnadenlos, darunter sehr viele Menschen jüdischer Abstammung. Flucht und Exil oder Ermordung im KZ – dies zieht sich wie ein grausamer Refrain durch die biografischen Abrisse Cocketts. Von den Überlebenden kehrten nach 1945 nur die allerwenigsten zurück, Wien wurde intellektuell steril.
Aber – und dies ist wohl der wichtigste Baustein in Cocketts Argumentation – die bahnbrechenden Wiener Ideen waren längst in der Welt. Ideen, die gerade auch durch die profunden Krisenerfahrungen – Antisemitismus, Krieg, Totalitarismus und Vertreibung – geprägt waren.
Auch wenn die Mehrzahl der von Cockett porträtierten Denker und Macher Männer sind, so bemüht er sich doch erfolgreich, den gewichtigen Anteil der Wienerinnen an dieser Melange aus Forschung und praxisbezogener Innovation zu benennen. Margarete Schütte-Lihotzky, die Erfinderin der modernen Einbauküche (erstmals 1924 im Wiener Gemeindebau), Edith Kramer, die „Mutter der Kunsttherapie“, oder die Sozialpsychologin Herta Herzog, die Pionierin der Marktforschung und Erfinderin der „Fokusgruppe“, um nur drei Wienerinnen zu nennen, deren Arbeiten globale Bedeutung erlangten.
Cockett fokussiert insbesondere auf den Einfluss von Wiener Ideen auf Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft in den USA, etwa Hollywood (Fred Zinnemann, Billy Wilder), moderne Managementtheorien (Peter Drucker) und die modernistische Westküstenarchitektur Kaliforniens (Richard Neutra). Was die Wiener auszeichnete, sei die Fähigkeit des Transfers von Ideen und Methoden: etwa von Freuds Psychoanalyse hin zur Erforschung der unbewussten Wünsche des Konsumenten und der Begründung der PR (Edward Bernays), von der mathematischen Spieltheorie (John von Neumann) oder der aus der Biologie stammenden Systemtheorie (Ludwig von Bertalanffy) zum Prognostizieren von wirtschaftlichem und politischem Verhalten im Kalten Krieg.
Cocketts Paradebeispiel für den langfristigen globalen Impact Wiens ist freilich die Österreichische Schule der Volkswirtschaft. Die ökonomische Grundsatzdebatte zwischen Planwirtschaft (Otto von Neurath) und Liberalismus (Ludwig von Mises und Friedrich Hayek) begann im Roten Wien. Von Mises und Hayek wurden nach 1945 zu den geistigen Vätern des Neoliberalismus.
Das Wienliebe-Buch
Barbaba Tóth in FALTER 27/2024 vom 03.07.2024 (S. 28)
Wer vorher noch kein Lokalpatriot war, ist es spätestens nach Richard Cocketts „Vienna. How the City of Ideas Created the Modern World“. Es ist eine Huldigung an das Wien zwischen der Jahrhundertwende und dem Ende der Demokratie 1933. An eine Stadt, die es so leider nicht mehr gibt: divers, kosmopolitisch, interdisziplinär, hungrig nach Bildung und natürlich sehr jüdisch. Economist-Journalist Cockett zeichnet anschaulich nach, wie die vielen Träger dieser Ideen nach ihrer Vertreibung in den USA und Großbritannien das Kultur-, Wirtschafts- und Geistesleben prägten. Damit erzählt er auch die Geschichte eines immensen intellektuellen Verlustes. Wie, fragt man sich beim Lesen immer wieder, stünde Wien – und damit auch Österreich – heute da, wären all diese klugen Köpfe von den Austro-Faschisten und später von den Nationalsozialisten nicht vertrieben oder ausgelöscht worden?
  


