

MAIGRET in der fremden Welt des Films
Michael Omasta in FALTER 13/2023 vom 31.03.2023 (S. 4)
Eilig hat der Kommissar es nicht. Wozu auch? Der jungen Toten, die auf einem Platz im Viertel Montmartre aufgefunden wurde, ist ohnehin nicht mehr zu helfen. Dennoch setzt gerade dieser Fall, den ein weniger erfahrener Ermittler vielleicht zu rasch als Mord im Rotlichtmilieu abgehakt hätte, Maigret besonders zu. "Du klingst schwermütig", bemerkt seine Frau einmal, und als es ihm auch noch den Appetit verschlägt, scheint Sorge angebracht.
Warum dem so ist, erfährt man erst am Ende des Films "Maigret" von Patrice Leconte, der nun in die Kinos kommt. In der Titelrolle stapft, nachdenklich und wortkarg, Gérard Depardieu durch ein düsteres Paris der 1950er-Jahre. Als literarische Vorlage dient der 45. Fall von Georges Simenons berühmtem Kriminalisten, "Maigret und die junge Tote"(verfasst 1954).
Zunächst muss der Kommissar die Identität der jungen Frau, die anfangs niemand zu kennen, geschweige denn zu vermissen scheint, herausfinden: Louise Louvière, ein Mädchen aus der Provinz, suchte in Paris ihr Glück und fand den Tod. Bis gegen Schluss die Umstände des Verbrechens und die daran Beteiligten ausgeforscht sind, verfährt der Film sehr frei mit dem Roman. Er behält nur die grundlegende Figurenkonstellation und das vorrangige Interesse des Autors an den involvierten Personen bei. So wie es im Buch an fortgeschrittener Stelle (auf Seite 145 von 208) über Maigrets Ermittlungsmethode heißt: "Merkwürdig übrigens. Bislang hatte er nicht an den Mörder, sondern nur an das Opfer gedacht, nur auf sie hatte er die Untersuchung ausgerichtet."
Nicht zuletzt darin unterscheiden sich die insgesamt 75 Romane und 28 Erzählungen, die der Autor und Lebemann Georges Simenon (1903-1989) rund um seinen Kommissar Jules Maigret entwickelt hat, von konventionellen Krimis. Er spiele nicht mit Figuren, konstatierte der Schriftsteller Jean Améry, er lasse seine Leser auch nicht Denksport treiben: nein, Simenon "gestaltet Menschen und zwingt sowohl seinen Detektiv als auch den Leser zur Anteilnahme an ihnen. Was den Leser fesselt, ist, so scheint uns, in erster Linie das menschliche Ereignis, in zweiter die Dichte einer bestimmten Atmosphäre und erst in dritter die methodische Aufdeckung eines Verbrechens."
Im Kino war Simenon von Anfang an gefragt. Immerhin schrieb der gebürtige Belgier nicht nur Bestseller in Serie, sondern zudem noch im Eilzugstempo. Eine Anekdote weiß von einem Anruf Alfred Hitchcocks in der Schweiz zu berichten. Der berühmte Regisseur wünschte den Autor zu sprechen, erhielt von dessen Frau aber die Auskunft, das sei nicht möglich, da dieser soeben einen neuen Roman in Angriff genommen habe. "Auch gut", entgegnete Hitchcock, "ich bleib so lange dran."
Der erste Maigret-Zyklus -nicht weniger als 31 Romane -erschien in den Jahren 1931 bis 1934. Die französischen Produzenten erkannten sofort das Potenzial, das diese Bücher für das Kino hatten, und innerhalb kürzester Zeit kamen drei Verfilmungen mit drei verschiedenen Hauptdarstellern heraus: "Der gelbe Hund", "Die Nacht an der Kreuzung" sowie "La Tête d'un homme" ("Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes").
Beim letztgenannten Titel hätte der Autor um ein Haar auch die Regie übernommen, trat sie jedoch an den routinierten Julien Duvivier ab. Nach eigenem Bekunden fand Simenon den Film nur als Einnahmequelle interessant, nicht als künstlerische Ausdrucksform: "Ich mag das Kino, aber besonders interessieren tut es mich nicht. Wenn ich ins Kino gehe, dann eher wegen der Atmosphäre, wegen der Werbung, der Erdnüsse und dem Eiskonfekt."
Ein andermal, bezogen auf die eigene Arbeit, meinte er: "Ich sage nicht, dass ich niemals wieder einen meiner Romane ans Kino verkaufen werde, aber wenn ich es tue, so dürfen Sie ruhig schließen: Sieh an! Simenon hat es also wieder auf viele große Scheine abgesehen."
Nach diesen drei Verfilmungen - Hatte er schon genug verdient? Oder blieben lukrative Angebote nun plötzlich aus? - war zunächst mal Schluss mit Kino. Erst neun Jahre später veräußerte er erneut Filmrechte seiner Romane -Maigrets wie Non-Maigrets -und avancierte zum meistverfilmten Autor in Frankreich während der deutschen Okkupation. Damit nicht genug: Fünf der neun damals gedrehten Kinofilme realisierte die Continental, eine (Nazi-)deutsch kontrollierte Produktionsfirma in Paris.
Offenbar kannte Simenon kaum Berührungsängste. So wie Kommissar Maigret seinen Job mit der Aufklärung eines Falles erledigt sieht und das Urteil den dafür zuständigen Instanzen überlässt, so erachtete der Autor seine Arbeit wohl mit Abschluss eines Buches für getan. Was die Filmleute daraus machten, die Qualität der Drehbücher oder Wahl der Hauptdarsteller, kümmerte ihn wenig.
In den drei Maigrets aus dieser Zeit spielt Albert Préjean, vormals Star von René Clairs frühen Tonfilmklassikern, den Kommissar. Besonders interessant ist die Entstehungsgeschichte von "Maigret und die Keller des Majestic", der letzten Produktion der Continental. Der Drehbeginn verzögerte sich mehrmals und konnte schließlich erst Anfang 1944 stattfinden, weil der Drehbuchautor Charles Spaak wegen familiärer Beziehungen zur Résistance für geraume Zeit inhaftiert war. Der Legende zufolge soll er das Manuskript in Fresnes vollendet haben, einem Gefängnis für politische Gefangene.
Mit den 1950er-Jahren internationalisierte sich Simenon als Stofflieferant, man verfilmte seine Bücher in Italien, England, den Vereinigten Staaten, ja sogar in Jugoslawien. Prägend für den Maigret der Leinwand wurde Jean Gabin; der französische Superstar verlieh dem Kommissar ab 1958 in drei Filmen wuchtig Statur. Seither ist Maigret zu einer der "großen Rollen" des klassischen Kinos wie auch des Fernsehens geworden. Das erste TV-Serial -"Maigret", 51 Folgen, entstand ab 1960 bei der BBC, mit Rupert Davies in der Hauptrolle. Ein Dutzend weiterer Fernsehserien sollte seitdem folgen.
Liest man einen der Romane heute wieder, hat man den Kommissar fast unweigerlich als Filmfigur vor sich. Im Buch "Maigrets Memoiren" (1950) lässt Simenon diesen selbst erzählen, wie ein junger Mann einst im Kommissariat auftauchte, der von sich behauptete, Schriftsteller zu sein, sich an seine Fersen heftete und später eine Reihe von Romanen über ihn veröffentlichte. "Wäre es wenigstens bei den Büchern geblieben! Aber die Filmleute begannen sich einzumischen, der Rundfunk, später das Fernsehen."
In spöttelndem Tonfall räsoniert Maigret über den ungewollten Erfolg, den Simenons Bücher ihm beschert hat, und darüber, wie sein Image auch vom Kino vereinnahmt wurde: "Es ist ein komisches Gefühl, wenn ich auf der Leinwand jemanden gehen, kommen, sprechen, sich schnäuzen sehe, einen Herrn, der ich sein soll. Mit Pierre Renoir, dem ersten Film-Maigret, wirkte die Geschichte ja noch einigermaßen glaubwürdig. Ich wurde etwas größer, schlanker. Einige Monate später schrumpfte ich um 20 Zentimeter zusammen, und was ich an Länge verlor, gewann ich an Breite. Unter der Maske von Abel Tarride wurde ich dick und plump und so schwammig, dass ich aussah wie ein aufgeblasenes Gummitier, das jeden Moment zur Decke fliegen kann. Ich bin nicht bis zum Ende des Films geblieben, doch meine Leiden waren noch nicht zu Ende."
So geht es weiter. Harry Baur, der große jüdische Tragöde des französischen Kinos zwischen den Kriegen, war Maigret schlicht zu alt; dessen "Nachfolger" wiederum, der elegant-kokette Albert Préjean, stand Maigrets jungen Inspektoren näher als den Kriminalisten seiner Generation. Danach legte er in der US-Koproduktion "The Man on the Eiffel Tower" wieder kräftig zu, "dazu spreche ich in der Gestalt von Charles Laughton so fließend Englisch, als wäre es meine Muttersprache".
Was der Kommissar wohl zu den späteren Darstellern seiner selbst gesagt hätte? Zu dem wenig überzeugenden Heinz Rühmann etwa, zum krass gegen den Typ besetzten Comedian Rowan Atkinson, oder zu seiner aktuellen Personifikation durch Gérard Depardieu?
Die anhaltende Popularität Maigrets ist umso erstaunlicher, als es sich bei dem Kommissar ja um eine bewusst unspektakuläre Erscheinung handelt. Er ist kein morphiumsüchtiges Genie wie Sherlock Holmes, kein skurriler Kauz wie der Hercule Poirot von Agatha Christie und schon gar kein smartes, chauvinistisches Stehaufmanderl à la James Bond.
"Maigret war ein einfacher Beamter am Quai des Orfèvres, mit einer besorgten Ehefrau daheim und den abgetragenen Kleidern eines mittelmäßig bezahlten Staatsangestellten", so nochmals Jean Améry. "Maigret war einer jener Typen, wie Simenon sie einst in (seiner Heimatstadt) Lüttich gesehen haben mag: ein geschickter und kluger Kriminalbeamter, kein Superman."
Als stoischer Beobachter der menschlichen Tragikomödie blickt er voll Empathie und Melancholie in seelische Abgründe. In den Romanen sind das Verbrechen und dessen Aufklärung lediglich äußerer Anlass, die Motive und psychischen Dispositionen aller Beteiligten auszuloten. So findet man Simenon im Gegensatz zu vielen anderen Verfassern von Kriminalromanen denn auch nur selten aufseiten der Befürworter einer rächenden Justiz.
Zur filmischen Umsetzung "eines Simenon" braucht es - will man den Autor ernst nehmen und sich nicht bloß des berühmten Namens bedienen -erhöhtes dramaturgisches Fingerspitzengefühl. Dabei ist der Plot fast schon Nebensache. Nicht zufällig gilt "Die Nacht an der Kreuzung" (1932) von Jean Renoir bis heute als eine der gelungensten Simenon-Verfilmungen überhaupt: Während der Dreharbeiten gingen zwei belichtete Rollen des Films verloren, was sich dem Verständnis der Krimihandlung nicht unbedingt zuträglich erwies.
Patrice Leconte, der Regisseur von "Maigret", hat Ende der 1980er-Jahre mit "Die Verlobung des Monsieur Hire" schon einmal einen Roman Simenons verfilmt und einen Riesenerfolg damit gefeiert. Der neue Film, dessen Drehbuch er gemeinsam mit Jérôme Tonnerre schrieb, ist ganz auf seinen Star abgestellt: den in jeder Hinsicht kolossalen Gérard Depardieu, der den Kommissar als grüblerischen, müde gewordenen Menschenfreund interpretiert. Dabei weiß er sich auf verlorenem Posten: "Das Verbrechen ist immer zugegen", murmelt er einmal -an der Wand hinter sich ein Stadtplan von Paris, auf dem an allen Ecken und Enden ein Lämpchen aufleuchtet, sobald ein Notruf bei der Polizei einlangt.
Louise also hieß das Mädchen, das, noch keine 20 Jahre alt, eines Nachts zu Tode kam. Immer machte Louise einen traurigen Eindruck. Ganz anders als ihre Freundin Jeanine, die beim Film in den Billancourt Studios jobbt und sich einen Verehrer aus reichem Haus geangelt hat. Als Maigret Jeanine (Mélanie Bernier) dort befragen will, landet er in einer labyrinthischen Kulissenwelt: Hinter jeder Tür, die er öffnet, ist bloß eine rohe Ziegelmauer.
Natürlich darf man es paternalistisch finden, dass Maigret-Depardieu bald überall nur noch verloren wirkende junge Frauen auffallen, die in der Großstadt fremd sind und leichte Beute für skrupellose Bohemiens oder Ganoven zu werden drohen. Doch so wie Simenon in einem adjektivlosen Stil erzählt, ohne ein Gramm "Literaturfett", so wenig hält sich auch der Film mit Stimmungsmalerei auf: Er beschreibt nicht, er zeigt. Übrigens erstmalig auch einen Maigret ohne Pfeife.