

Die Abgründe der besseren Gesellschaft
Thomas Leitner in FALTER 28/2021 vom 16.07.2021 (S. 29)
Wer den belgischen Autor Georges Simenon (1903–1989) nur als Erfinder des Kommissars Maigret und Schöpfer raffinierter Kriminalromane kennt oder ihn gar als übereifrigen Produzenten von Gebrauchsliteratur unterschätzt, den belehrt die Neuübersetzung des Romans „Betty“ (1961) hoffentlich eines Besseren. Elisabeth Edl und Wolfgang Matz treffen genau den Ton der Zeit, der dennoch nicht verstaubt wirkt.
Bereits auf den ersten Seiten fühlt man sich in einen Film versetzt: Vor dem geistigen Auge entsteht das Paris um 1960, unter dem existentialistischen Lack schimmern noch Farbtupfer des Fin de Siècle eines Toulouse-Lautrec. Es wirkt, als hätte sich der Autor von den damals schon zahlreichen Verfilmungen seiner Romane inspirieren lassen.
Die atmosphärisch dichten Orte der Handlung sind: eine Bar mit dem vielsagenden Namen „Le Trou“, tatsächlich ein halbseidenes „Loch“, wo gut gegessen, geflirtet und verkuppelt wird und vor allem eine Unmenge Alkohol fließt; ein elegantes Hotel im noblen Versailles, das auch allerlei Gestrandeten Zuflucht und einen langen Aufenthalt gewährt; vornehme Salons in den Luxusbezirken von Paris bzw. Lyon mit ihrem dazugehörigen Inventar, einem großbürgerlichen Personal, gelähmt und gleichzeitig lähmend durch seine Wohlanständigkeit.
Inmitten dieser Milieus bewegt sich in selbstzerstörerischer Lebenslust eine leidenschaftliche junge Frau. Nach Abstürzen und Verlusten – sie hat auf ihre Kinder vertraglich verzichten müssen – steht Betty immer wieder auf, verursacht Verletzungen, ruft Unverständnis hervor. Wirklich zu helfen ist ihr in dieser Welt nicht, doch geht sie auch nicht vollends unter. Das tun andere für sie: Betty spannt ausgerechnet ihrer Wohltäterin ohne Skrupel den Liebhaber aus, raubt ihr Halt und Lebenslust.
Die Geschichte wirkt wie geschaffen für den Regisseur Claude Chabrol, der sich 1992 des Stoffes angenommen hat. Doch trotz einer großartigen Marie Trintignant in der Hauptrolle sind die Eindrücke der Lektüre weitaus lebendiger.