

Shakespeare in Sansibar
Sebastian Fasthuber in FALTER 19/2024 vom 10.05.2024 (S. 37)
Der Nobelpreis für Literatur ist die höchste Auszeichnung, die Autorinnen und Autoren erlangen können. Gleichzeitig umweht ihn der Mythos, dass er den kreativen Todesstoß einer literarischen Laufbahn bedeutet.
Wer hat danach noch Bedeutendes zu Papier gebracht? Ein anderes Vorurteil besagt, dass die Schwedische Akademie den Preis nach politischen Kriterien vergibt, quasi als Kommentar zum Weltgeschehen.
2021 wurde Abdulrazak Gurnah damit ausgezeichnet. Wer?
In der deutschsprachigen Kritikerzunft war der Mann aus Sansibar/Tansania so gut wie niemandem ein Begriff. Na gut, hat es - nach 35 Jahren! - wieder einmal einen afrikanischen Autor getroffen, so die ersten Reaktionen.
Tatsächlich sind seine Romane dazu geeignet, alle Klischees über Literaturnobelpreisträgerprosa und die Verleihungspolitik infrage zu stellen. Gurnah hat etwas zu erzählen -und er tut es auf die formvollendete Art eines Autors, der so klug und belesen ist, dass er nicht mit seiner Klugheit und Belesenheit prahlen muss. Der Ton seiner Romane ist leise, die Sprache unprätentiös. Und doch sind sie eine Wucht.
Gurnah, der als Literaturprofessor gearbeitet hat, wählte als Erzählsprache das Englische, um eine größere Leserschaft zu erreichen als mit seiner Muttersprache Swahili. Er schreibt Weltliteratur im besten Sinne.
Immer wieder finden sich Rückgriffe auf Shakespeare. So basiert ein Hauptstrang des nun übersetzten Romans "Das versteinerte Herz" (das Original "Gravel Heart" ist 2017 erschienen) auf dem Konflikt in "Maß für Maß". Aber auch "Tausendundeine Nacht" sowie Klassiker der Moderne haben Gurnah beeinflusst.
Seine Literatur ist das Produkt von zwei Kontinenten und einer großen Entfremdung. Die Erzählstimme von "Das versteinerte Herz" gehört Salim, dessen biografische Eckpfeiler auch die des Autors sind. Er wächst in Sansibar auf, geht zum Studieren nach England und büßt die alte Heimat ein, ohne eine neue zu gewinnen.
Der postkoloniale Entwicklungsroman entpuppt sich als traurige Geschichte, in der es kaum Gewinner gibt. Salim verliert zuerst seinen Vater. Dieser verlässt die Familie, als der Bub gerade eingeschult worden ist. Als Teil der jemenitischen Minderheit in Sansibar besucht er neben dem normalen Unterricht auch die Koranschule.
Der Vater bleibt in der Nähe, doch er lässt sich gehen und suhlt sich in seinem Schmerz. Die Mutter braucht Salim gar nicht zu fragen, was mit Papa los ist. Sie wird bis zuletzt darüber schweigen, was zu dem plötzlichen Bruch geführt hat.
Nach dem Schulabschluss verlässt Salim Sansibar - nicht ganz freiwillig. Sein Onkel, ein Diplomat, holt ihn nach London. Der Neffe soll Wirtschaft studieren und Karriere machen. Doch Salim verlässt den für ihn vorgezeichneten Weg, interessiert sich für Literatur und driftet durch diverse Jobs.
Eindringlich schildert Gurnah, wie Salim sich aufs Wartegleis des Lebens abgeschoben fühlt. Er hat seinen Stolz und eine gute Beobachtungsgabe, daher traut er kalten Karrieristen wie dem Onkel nicht über den Weg. Zu Recht: Nach und nach offenbart sich das Familiengeheimnis. Der Diplomat spielt darin eine unrühmliche Rolle.
Hinter der persönlichen Ebene blitzen die Kolonialgeschichte Sansibars, die Revolution und ihre Folgen auf. Die Politik entpuppt sich als Motor der Handlung, sie bestimmt über die Lebensläufe.
Arrangiert man sich mit den gerade herrschenden Verhältnissen und Machthabern? Geht man, oder bleibt man? Welche Opfer ist man bereit, für seine Familie zu bringen? Letztere Frage betrifft vor allem die Frauen.
Wer über die Befindlichkeiten der aktuellen deutschsprachigen Literaturproduktion hinausblicken möchte, lese dieses großartige Buch.