

Alles und noch viel Meer
Sebastian Fasthuber in FALTER 42/2024 vom 18.10.2024 (S. 23)
Geboren am 1. Jänner 1970 eine Sekunde nach Mitternacht, wird Todd Keane von seinen Eltern in jungen Jahren „Nummer eins“ genannt. Was das Einzelkind schon etwas unter Druck setzt. Es hält ihm freilich stand, wird Computer-Wizard und mit seiner Schöpfung Playground, einem digitalen Spielplatz in der Art von Facebook und „Second Life“, zum Milliardär.
Todd Keanes Widerpart ist Rafi Young. Von seinem Vater darauf gedrillt, frisst sich der schwarze Junge aus armen Verhältnissen schon als Schüler durch ganze Bibliotheken. Für einige Jahre verbindet ihn und Todd eine intensive Freundschaft, obwohl die beiden in Hinblick auf ihren Hintergrund und ihre Neigungen verschiedener kaum sein könnten.
Was sie eint, ist ihre Intelligenz, Neugier und schnelle Auffassungsgabe. Während ihres Studiums bestreiten die beiden regelrechte Marathons in Schach und Go. Danach trennen sich ihre Wege. Auch wegen Ina Aroita: Die junge Frau findet einen Draht zum verschlossenen Rafi und wird seine große Liebe.
Jahrzehnte später lebt das Paar mit seinen Adoptivkindern auf Makatea, einer zu Französisch-Polynesien gehörende Koralleninsel im Südpazifik. Rafi ist Lehrer, Ina macht aus angeschwemmtem Plastik Kunst. Die Insel zählt nicht einmal hundert Bewohner. In den 1960ern wurde hier auf Teufel komm raus Phosphat abgebaut, inzwischen hat sich das Ökosystem halbwegs erholt.
Da kommt eine neue Bedrohung auf. Amerikanische Investoren wollen in der Gegend ein Pionierprojekt des sogenannten „Seasteading“ durchführen, also dauerhaften Lebensraum auf dem Meer schaffen. Geplant sind „schwimmende Burgen der Selbstverwirklichung“ für eine entsprechend reiche Klientel.
Finanziell würden die Makateer davon profitieren. Aber womöglich wäre es gleichzeitig das Todesurteil für ihren Lebensraum. Das Zünglein an der Waage bei der Abstimmung unter den Inselbewohnern könnte Evie Beaulieu sein, die ihr Leben der Erforschung des Ozeans verschrieben hat.
US-Autor Richard Powers legt alle paar Jahre einen Wälzer vor, in dem er nach akribischer Recherche seine aktuellen Interessen verarbeitet. Nicht umsonst gilt der Mittsechziger als „the brain“ der zeitgenössischen Literatur. In vorangegangenen Romanen hat er sich mit den Erkenntnissen der Gehirnforschung („Das Echo der Erinnerung“) oder der Gentechnik („Das größere Glück“) beschäftigt. Seine Bücher lesen sich wie intellektuell anregende Einführungen in verschiedene Wissensgebiete.
Zuletzt hat sich der studierte Physiker, der in jungen Jahren als Programmierer gearbeitet hat, unter dem Eindruck des Klimawandels verstärkt der Natur zugewandt. In „Die Wurzeln des Lebens“ ging es um das aus dem Gleichgewicht geratene Verhältnis zwischen Mensch und Natur – und um die Kraft von Bäumen.
Mit „Das große Spiel“ setzt Powers diese Thematik auf dem offenen Meer fort, ohne das Genre der Dystopie zu bemühen, wenngleich das Bedrohungsszenario eines ständig steigenden Meeresspiegels nicht ausgeblendet wird. Aber anstatt nur schwarz in schwarz zu malen, betreibt der Roman einigen Aufwand, um die Schönheit der Unterwasserwelt zur Geltung zu bringen: Die Beschreibungen dessen, was Evie Beaulieu auf ihren Tauchgängen zu sehen bekommt, sind so farbenfroh wie eine Naturdoku in Ultra HD-Auflösung. Wobei sich Powers nicht damit bescheidet, Staunen hervorzurufen, sondern schon auch eine Botschaft hat: Das Leben unter Wasser könnte uns etwas über Koexistenz erzählen und lehren – auch auf der Erde.
Dabei ist dem US-Autor der moralische Zeigefinger fremd. Powers drückt einem seine Meinung nicht aufs Auge, er überlässt es den Leserinnen und Lesern, ihre Schlüsse zu ziehen.
Bevor es zu technisch oder abstrakt wird, nimmt er verlässlich die Abzweigung Richtung Plot. So geht das über 500 Seiten hin und her. Der vielfach ausgezeichnete Powers zählt unbestritten zu den großen Romanciers unserer Zeit. Doch diesmal sinkt die Begeisterung mit Fortdauer der Lektüre.
Die häufigen Zeit-, Orts- und Perspektivwechsel sorgen dafür, dass man immer wieder neu ansetzen muss und bisweilen Angst bekommt, unter eine Welle aus Text gedrückt zu werden. So erzählt Todd, der im Alter von 50 Jahren an Demenz erkrankt, seine Geschichte mit Rafi und vom Aufstieg seines Unternehmens einem „Du“, das schwer auszumachen ist. Oder spricht hier schon eine KI?
Erschwerend kommt hinzu, dass die Figuren für einen so komplexen Roman recht eindimensional geraten sind. Literaturnerd Rafi wird nie greifbar. Technikvisionär Todd entwickelt sich mit wachsendem Reichtum immer mehr zum versponnenen Konzernchef, wie man das aus dem wirklichen Leben ja von Twitter kennt, das jetzt X heißt.
Leider gesteht Powers dem Superhirn-Duo mit Empathiemangel viel mehr Raum zu als Taucherin Evie Beaulieu. Diese hat damit zu kämpfen, dass sie als Erforscherin der Ozeane in eine Männerdomäne eindringt. Sie muss für ihre große Leidenschaft auch immer wieder ihren Ehegatten und die zwei kleinen Kinder über längere Zeit zuhause zurücklassen.
Evie regt sich darüber auf, dass die meisten Menschen, wenn sie „Meer“ sagen, nur die Küstenregionen meinen. Sie hingegen interessiert sich für das fast unermesslich große Ganze. So ähnlich dürfte das Selbstverständnis von Powers als Autor aussehen. Er würde am liebsten die ganze Welt zu fassen kriegen.
„Das große Spiel“ erforscht den Ozean, erzählt von Freundschaft und behandelt obendrein das Thema künstliche Intelligenz. Leider ergibt das Ganze weniger als die Summe der einzelnen Teile.