

Wer erzählt die Geschichte?
Tessa Szyszkowitz in FALTER 33/2023 vom 18.08.2023 (S. 18)
Wenn ein Ehepaar einen Witz erzählt, dann hängt die Pointe oft davon ab, ob der Mann oder die Frau das letzte Wort behält. So ist es auch mit der Geschichtsschreibung: Janina Ramirez hat dies in ihrem Buch "Femina" sehr anschaulich dargestellt. Die Historikerin an der Oxford University in England hat die Geschichte des Mittelalters noch einmal anders aufgeschrieben. Wo sich sonst Karl der Große und Marco Polo in der Zeit zwischen 500 und 1500 auf der Bühne tummeln, holt Ramirez die einflussreichen Frauen der Epoche vor den Vorhang. "Ich schreibe nicht die Geschichte neu", erklärt die Autorin im Vorwort: "Ich beziehe mich auf die gleichen Fakten. Aber ich verändere den Blick darauf."
Das Buch wird mit einem Zitat von Hildegard von Bingen eingeleitet: "Ich bin das feurige Leben, die göttliche Substanz." Die deutsche Nonne und spätere Äbtissin gilt als eine der einflussreichsten Frauen des Mittelalters - sie war als Heilerin, Mystikerin und Komponistin die Universalgelehrte des 12. Jahrhunderts schlechthin. Zu Lebzeiten korrespondierte sie mit Päpsten, heute wird sie von den Katholiken als Heilige verehrt -und ihre himmlischen Chöre werden als Trance-Musik in Nachtclubs recycelt.
Historikerin Ramirez schreibt auch über Kriegerinnen, die nach der männlichen Geschichtsschreibung lange gar nicht existierten. Die Wikinger waren schließlich doch Männer. Oder? 2017 fand man beim DNA-Test eines mittelalterlichen Zahnes in Schweden heraus, dass es sich bei einem als "Birka-Kämpfer" abgespeicherten Skelett um eine Kämpferin handelt: "Die Wikinger-Kultur war ein weniger rigides Patriachat als gedacht", schreibt die Autorin.
Über Königinnen wie Jadwiga von Polen und der Geschäftsfrau und Influencerin Margery Kempe nähert sich Janina Ramirez gegen Ende ihrer Zeitreise den Outcasts an. Die Londoner Hure Eleanor Rykener etwa hatte am liebsten mit Priestern zu tun. Sie zahlten einfach besser.