
Kismet, Klima und Kleinstadtklatsch
Julia Kospach in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 19)
Es ist der Alkohol, der im aktuellen Roman von Pulitzer-Preisträgerin Louise Erdrich das Urteilsvermögen von Kismet Poe trübt, worauf sie den Heiratsantrag von Gary wider besseres Wissen doch noch annimmt. Die schöne, schlaue und blutjunge Frau erliegt der als Glutliebe missverstandenen Bedürftigkeit des Highschool-Quarterbacks und Sohnes der wohlhabendsten Landbesitzerfamilie in und um Tabor, South Dakota, dem Schauplatz des Buches.
In der farbenprächtigen, multiperspektivisch erzählten Geschichte wuselt’s und wimmelt’s vor lauter Stimmen, Szenen und Charakteren, und es dauert eine ziemliche Weile, bis man sich eingelesen und den Überblick über das Who’s who in Erdrichs landwirtschaftlich geprägtem Kleinstadtbiotop verschafft hat.
Nicht umsonst freilich ist die US-Autorin, die wie viele ihrer Charaktere von Native Americans abstammt, für ihren Humor, ihre fein gezeichneten Porträts und die historische Aufladung ihrer Romane berühmt. Das trifft auch auf ihren jüngsten Streich „So war die Welt“ zu, der 2008, im Jahr des Börsencrashs, spielt und zugleich romantische Komödie, Familien-Soap-Opera, Kleinstadt-Satire und ein raffiniertes Stück des inzwischen zur eigenen Gattung avancierten Genres der Climate-Fiction ist. Denn die Böden sind vom Zuckerrübenanbau in Monokultur ebenso ausgelaugt wie der die Geschichte und Region prägende Red River mit Pestiziden und Industriegiftstoffen verdreckt ist; und die historisch gewachsene soziale Ungerechtigkeit zwischen Landarbeitern und -besitzenden bleibt ebenfalls allgegenwärtig. Die große, weite Welt findet anderswo statt, ist aber in den Mikrokosmen, in denen sich Erdrichs Figuren bewegen, doch deutlich zu spüren.
Erdrich baut ihren Roman rund um die Dreiecksbeziehung zwischen Kismet, dem drögen, doch umschwärmten Gary und beider Mitschüler, dem nerdigen und hochbegabten Hugo. Der ist anders als Gary ein begabter Liebhaber mit stets warmen Händen. Hugo liebt Kismet in unerschütterlicher, quijotesker Unbeirrbarkeit und träumt davon, eines Tages als gemachter Mann mit eigenem Auto vom Schuften auf einem entlegenen Ölfeld nachhause zurückzukehren.
Ein komisches Highlight ist die Szene, in der sich Hugo in der Buchhandlung seiner Mutter mit einem – eigentlich zur Verteidigung gegenüber seinem romantischen Widersacher Gary gedachten – Taser irrtümlich selbst zu Boden streckt, nachdem er diesem den Eheratgeber-Buchtitel „Klinische Sextase. Von lesbischen Ärztinnen für Männer“ verkauft hat.
Kurzum: Kismet steht zwischen zwei Männern, findet sich als zerrissene, zweifelnde Braut und junge Ehefrau wieder und denkt zugleich nicht daran, auf ihre erotischen Intermezzi mit Hugo zu verzichten. Wobei der Versuch, den engen Maschen der sozialen Kontrolle zu entkommen, auch fürs kleinste Stelldichein eine geradezu künstlerische Meisterschaft voraussetzt.
Im Wortsinn fatal ist nicht nur der Name der Protagonistin. Aberglaube und Visionen spielen unter den Kleinstadtbewohnern eine beträchtliche Rolle, und ein Autounfall in der Vergangenheit entfaltet bis in die Gegenwart schicksalshafte Wirkung. Als anscheinend auch noch der Sparfonds der örtlichen Kirchengemeinde veruntreut wurde – der strenge Father Flirty mit dem ebenfalls sprechenden Namen ist not amused! –, verschärft das die Zwangslage von Kismet und ihrer Mutter noch weiter.
Louise Erdrichs große Kunst besteht darin, ihre Figuren nicht plakativ auszuschildern, sondern diese mithilfe von kleinen Gesten, alltäglichen Handlungen und Sätzen zu äußerst plastischen Charakteren zu gestalten. Als Small-Town-Milieustudie, in der Tratsch und Klatsch die Story mit Macht vorantreiben, ist „So war die Welt“ grandios.


