

Tonnenschwere Reise durch Zeit und Raum
Andreas Kremla in FALTER 41/2011 vom 14.10.2011 (S. 47)
Geschichte: Neil MacGregor präsentiert die Weltgeschichte anhand von Objekten aus dem British Museum
Wie das wohl als E-Book aussähe? Die Optik spielt hier eine große Rolle. Jedes der 100 Kapitel dreht sich um eine konkrete Kostbarkeit, ein Stück aus den seit 250 Jahren gesammelten Schätzen des British Museum. Von jedem Exponat gibt es zumindest ein ganzseitiges Farbfoto mit beeindruckender Tiefenschärfe, oft auch noch ein paar Detailbilder.
Von der 11.000 Jahre alten Steinskulptur der Liebenden aus Judäa über ein goldenes Lama der Inka bis zum viktorianischen Teeservice – die kleinen Wunder menschlicher Kreativität sind Schlüssel zu den Türen vergangener Welten.
Bei jedem Gegenstand erfährt man die Geschichte seiner Entdeckung und seiner Verwendung. Vor allem aber erfährt man, wie die Menschen mit diesem Ding lebten. Durch die Ausstellung führt Neil MacGregor.
Ganz leicht dürfte dem Kunsthistoriker und amtierenden Direktor des British Museum die Auswahl nicht gefallen sein. Eine Sammlung von über sieben Millionen Kunstobjekten umfasst sein Haus. Dessen Bedeutung sieht er vor allem darin, "dass es uns eine Zeitreise ermöglicht".
Ursprünglich hatte MacGregor die Objekte für eine akustische Reise ausgesucht. Die Radiosendung der BBC "A History of the World in 100 Objects" ging von Jänner bis Juni 2010 über den Äther – mit zunehmender und zunehmend begeisterter Zuhörerschaft.
Von daher kommt auch die Gliederung in Zeitabschnitte zu je fünf Objekten (= fünf Sendetage pro Woche). Apropos ursprüngliche Idee: Hat man hier vergessen, den Filmemacher Peter Greenaway zu erwähnen, oder hat seine Ausstellung "100 Objects to Represent the World" (1992) tatsächlich keinerlei Denkanstoß für MacGregors 100 Objekte geliefert?
Einfach und klar müssen Sätze sein, die ein Radiohörer empfangen soll – und die kommen auch beim Leser gut an. Nur manchmal verliert sich der Herr Direktor im Professoralen und findet das Ende eines Satzes erst nach einigen Verschachtelungen.
Gegenüber anderen Annäherungen ans Gewesene entfaltet MacGregor eine ungewöhnliche Perspektive.
Fast alle Geschichtsbücher werden zur Gegenwart hin breiter. Mit MacGregor überschreiten wir erst knapp vor der Hälfte der 800 Seiten die Schwelle von der Antike zum Mittelalter. Die Neuzeit beginnt nach drei Vierteln des Buches – mit Objekt Nr. 75, Dürers Rhinozeros-Holzschnitt.
Weit mehr als bei anderen aktuellen Weltgeschichten reist man hier auch durch den Raum. Haben jene oft einen Hang zum Eurozentrismus, ist man hier zeitweise versucht, MacGregor der Europhobie zu verdächtigen. Zumindest anfangs finden sich nur sehr wenige Gegenstände europäischen Ursprungs.
Doch da die "News of the World" zu Zeiten der Ur- und Frühgeschichte in Ostafrika, Kleinasien und Nahost gemacht wurden, darf dies wohl als repräsentativ gelten.
Das größte Land auf der MacGregor'schen Weltkarte ist China: Mit zehn Objekten steht das Reich der Mitte unangefochten an der Spitze – vom Ritualgefäß aus dem elften vorchristlichen bis zur Solarlampe aus dem 21. Jahrhundert. Dass England mit acht Objekten folgt, überrascht weniger, als dass sich hier nur eine einzige Skulptur aus der griechischen Antike findet. Was abgeht, sind Objekte, die das Alte Rom repräsentieren.
Über solche Lücken tröstet der trockene britische Humor hinweg. Als guter Reiseführer stellt MacGregor originelle Verbindungen zwischen der fremden und der eigenen Welt her. So befindet er über das wohl berühmteste Exponat seines Museums: "Der Stein von Rosette ist (...) zugleich Ausdruck von Macht und von Kompromiss, auch wenn der gesamte Text in etwa so aufregend zu lesen ist wie eine neue, in mehreren Sprachen abgefasste EU-Regelung. Er ist bürokratisch, priesterlich gestelzt und trocken."
Für den ungeduldigen Leser funktioniert dieser bildreiche und saftige Zugang zur Geschichte prächtig: Die Neugier aufs nächste Objekt hält bei der Sache. Die Kollektion sehenswerter Stichroben aus dem Leben in anderen Welten gestaltet sich bei weitem abwechslungsreicher als ein Weltgeschichtewälzer mit Anspruch auf Vollständigkeit.
Nicht zuletzt ist diese Ausgabe einfach auch schön zum Anschauen: Bei den Bildern kann die über historische Zusammenhängende grübelnde, dominante Hirnhälfte ein wenig rasten. Einen Vorteil hätte das E-Book dennoch: Als Hardcover wiegen die "100 Objekte" satte 2,26 Kilo.
Wenn man davon ausgeht, dass ein Leser sich stets ein Kleinod zu Gemüte führt und dann das Buch kurz weglegt, bevor er es wieder aufnimmt, hat er am Ende fast eine halbe Tonne bewegt. Ein Genuss ist es dennoch.