

Hier irrte Nietzsche
Klaus Nüchtern in FALTER 8/2013 vom 22.02.2013 (S. 29)
Mit seinem vergnügtem Schulmeisterlein Wutz schuf Jean Paul einen stillen Giganten der Beschaulichkeit
Ach, wenn einer stirbt, dann stirbt nicht nur ein Mensch", heißt es in einem Gedicht des Philosophen Günter Anders aus dem Jahr 1938. "Dann sterben alle / Dinge, die er liebte, mit ihm. / Ach, wenn einer stirbt, dann stirbt die Welt."
Knapp eineinhalb Jahrhunderte
zuvor wird diese Einsicht in einem kurzen Prosatext vorweggenommen und variiert, der paradoxerweise
als "Eine Art Idyll" ausgewiesen wird und in seinen berühmten Eingangssätzen den Tod genrekonform als
sanftes Dahinscheiden imaginiert: "Wie war dein Leben und Sterben so sanft und meerstille, du vergnügtes Schulmeisterlein Wuz! der stille laue Himmel eines Nachsommers gieng nicht mit Gewölk, sondern mit Duft um dein Leben herum: deine Epochen waren das Schwanken und dein Sterben war das Umlegen einer Lilie (
)."
Wer von Jean Paul nichts anderes kennt als diese Zeilen, wird sich gegen deren unbestreitbare Poesie vielleicht mit Skepsis wappnen und – ganz im Sinne von Dylan Thomas' berühmter Zeile "rage, rage against the dying of the light" – aufbegehren gegen die euphemistische Sanftmut, die der Dichter hier evoziert.
Nietzsche hat Jean Paul denn auch böse als "guten Menschen" gelobt und "ein Verhängnis im Schlafrock" geheißen; Goethe ihn gegenüber Eckermann ungnädig einen Philister genannt. Beide hätten es eigentlich besser wissen müssen.
Denn selbst was im Wutz putzig und butzenscheibenhaft wirkt, ist gerahmt von einer ins Kosmische geweiteten Vernichtungs- und Erlösungsfantasie, die ihresgleichen sucht. Würde man nach einer musikalischen Entsprechung suchen, dann fände man Jean Paul, der sieben Jahre älter als Mozart und sieben Jahre jünger als Beethoven war, nicht in der Klassik, sondern in der Spätromantik: Gustav Mahler mit Pauken, Trompeten, Bassposaunen und Röhrenglocken.
Es ist wohl kein Zufall, dass gleich zwei Verlage Jean Pauls sich am 21. März zum 250. Mal jährenden
Geburtstag zum Anlass genommen haben, den "Wutz" herauszubringen (der in der Erstausgabe von 1793
noch kein "t", dafür ein Genitiv-"s" hatte).
Der keine 70 Seiten starke Text enthält nämlich den ganzen Jean Paul in der Nussschale. So wie dieser wie ein Rasender Notizen, Abschriften, Briefe verfasst, so schreibt auch Wutz in grafomanischem Furor ganze Bibliotheken ab und das eigene Leben auf, sodass seine Adjustierung am Hochzeitstag "so wohl in seiner ,Wuzischen Urgeschichte' als in ,seinem Lesebuch für Kinder mittleren Alters'" Erwähnung findet.
Schreiben ist Leben, ein Medium der Vergegenwärtigung, ein Einspruch gegen die Hinfälligkeit und den Tod. Im Akt des Schreibens und des Erinnerns, die einander bedingen, wird die Stillstellung der unerbittlich voranschreitenden Zeit angestrebt.
Hierin leistet Literatur Ähnliches wie die memnotechnischen Arrangements des Protagonisten, bei dem es "von seiner Kindheit an ein Reichsgrundgesetz (
) war, alle seine Spielwaaren in chronologischer Ordnung aufzuheben (
): so konnt' er noch am Rüsttage vor seinem Todestage diese Urnenkrüge eines schon gestorbenen Lebens um sich stellen und sich zurückfreuen, da er sich nicht mehr vorausfreuen konnte."
Das Schulmeisterlein, das der Genremaler Carl Spitzweg zum Inbegriff
des ängstlichen biedermeierlichen Kauzes vereindeutigt, ist bei Jean Paul ein Virtuose der Vorausfreude. Schönfärberei ist hier nicht schlechterdings spießiges Nichtzurkenntnisnehmenwollen unliebsamer Tatsachen, sondern eine kreative Anstrengung: "Allein wer Phantasie hat, macht sich aus jedem Fetzen eine wunderthätige Reliquie."
Ästhetisch ist Jean Paul Extremist, sein Schreiben dem klassischen Ebenmaß abhold. Idyll und Tragödie, das Wutzische und das Kosmische wohnen hier gleichsam Tür an Tür. Und so wie der Autor seine "Art Idylle" einfach seinem Roman "Die unsichtbare Loge" angeklebt hatte, hat er dem Wutz noch ein "Ausläuten oder Sieben letzte Worte an die Leser der Biographie und der Idylle" hinzugeflickt (das in der bei C.H. Beck erschienenen Fassung fehlt).
Auf diesen finalen zehn Seiten entzieht Jean Paul der Welt zunächst alle Farbe und lässt "ein unermeßliches Skelet" Sonnen verschlingen, Erden erquetschen und Monde austreten, um diese Apokalypse gnädigerweise als Albtraum zu enthüllen und die Unsterblichkeit zu beschwören: "du wirst nie vergehen". Der Glaube daran ist freilich nachhaltig ramponiert. Philister erzählen anders.