

Mehr Willy Brandt wagen
Werner Perger in FALTER 51-52/2013 vom 20.12.2013 (S. 24)
Der deutsche Ausnahmepolitiker wäre heute
100 Jahre alt. Er hätte uns noch viel zu sagen
Deutschland hat wieder eine Regierung, zum dritten Mal eine große Koalition. Die 150 Jahre alte deutsche Sozialdemokratie kehrt zurück an die Macht. Zwar nicht als Wahlsieger. Dazu reichen die 25,7 Prozent vom Wahltag im September nicht aus, konnten CDU und CSU doch 41,5 Prozent auf sich vereinen.
Aber das Verliererimage ist die SPD jetzt los. Sie sieht nicht aus wie ein Koalitionspartner von Angela Merkels Gnaden. Die parteiinterne Urabstimmung über die Koalitionsfrage hat dabei geholfen und den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel gestärkt. 78 Prozent Beteiligung, 75,96 Prozent Zustimmung zum Koalitionsabkommen, damit kann die Partei sich schon sehen lassen – und auch feiern.
Ein Fest der Demokratie sei das, sagte Gabriel, "ein Fest der SPD!". Und er widmete diesen Erfolg seiner Operation "Mehr Demokratie wagen" dem Jubilar, von dem die kämpferische Formel einst geprägt worden war: Willy Brandt, dem ersten sozialdemokratischen Nachkriegskanzler. Am 18. Dezember wäre er 100 Jahre alt geworden.
Die Würdigung des Lebenswerks und der Persönlichkeit des am 8. Oktober 1992 verstorbenen Kanzlers und langjährigen Parteivorsitzenden ist allerdings schon länger im Gange. Brandts Vermächtnis und Mahnung, dass die Demokraten mit den Veränderungen der Wirklichkeit Schritt halten müssten, ist aufgrund der offenkundigen Orientierungsprobleme der Regierenden schon seit einiger Zeit ein öffentliches Thema.
Der gemeinsame Subtext von Vorträgen, Diskussionsbeiträgen, Aufsätzen und Leitartikeln ist meistens der: Die Europäische Union bräuchte dringend einen wie ihn, einen Mann mit Weitblick, einer Zielvorstellung und mit dem Gefühl für das Mögliche. "Mehr Willy Brandt wagen!", hatte der Münchner Soziologe Ulrich Beck ("Risikogesellschaft") in einer Diskussion mit dem FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher Anfang des Jahres gesagt. Das reaktive Kleinklein von Kanzlerin Merkel müsse überwunden werden. Wie, das könne man bei Brandt studieren, dem realistischen Visionär.
Die Idee, einer wie Brandt könne in der gegenwärtigen Lage einen Unterschied machen, nährt sich stark aus der Erinnerung an die Wirksamkeit und an den Einfluss des Jahrhundertpolitikers. Wer Brandt als Kanzler beobachten konnte und als SPD-Vorsitzenden auch in den Jahren nach der Kanzlerschaft sowie als Präsidenten der Sozialistischen Internationale (SI) auf der globalen Bühne erlebt hat, in Wien oder Stockholm, Genf oder Jerusalem, Managua oder Havanna, kann sich das umso eher vorstellen. Die Art und Weise, in der Brandt und seine Freunde Bruno Kreisky und der schwedische Premier Olof Palme für diskursive und intellektuelle Anstöße sorgten und den von Brandt 1976 in traurigem Zustand übernommenen Laden SI in kurzer Zeit zum internationalen Player gemacht hatten, war beeindruckend.
"Die drei Musketiere" der europäischen Sozialdemokratie nannte der Journalist Peter Merseburger dieses beispiellose Triumvirat. Drei Schwergewichte, die wussten, was sie wollten, die eine Vorstellung davon hatten, wie man es erreichen könnte, und die versuchten, Probleme nicht nur zu besprechen, sondern auch zu lösen.
Die spektakulärste Aktion war wohl Brandts Ein-Mann-Mission in Bagdad im November 1990. Angesichts der absehbaren US-Intervention im Irak zur Befreiung Kuwaits wollte er Saddam Hussein zur Freilassung westlicher Geiseln überreden. Es war ein Alleingang gegen den Willen der Amerikaner, ohne offizielle Unterstützung durch die Regierung Kohl. Ein Aufenthalt voller Dramatik und emotionaler Wechselbäder, ständig vom Scheitern bedroht. Aber Brandt schaffte es. Die von der Bundesregierung dann doch eigens gecharterte Lufthansamaschine flog vollbesetzt mit 174 Freigelassenen zurück in die Bundesrepublik. Acht Wochen später begann die Operation Desert Storm.
In der deutschen Innenpolitik bemühte er sich durchaus kämpferisch um die Durchsetzung seiner Vorhaben und hat dabei auch polarisiert. Aber sein Hauptprojekt war für ihn neben dem Kampf um soziale Gerechtigkeit und mehr Demokratie die Sicherung von Frieden und Freiheit.
Einfach war das nie, schon gar nicht in einer Zeit großer Kriege und globaler Spannungen. In einem gespaltenen Land war es vielleicht noch schwerer als anderswo. Insgesamt jedenfalls spiegelte "Willy Brandts Leben die deutsche und europäische Geschichte des kurzen 20. Jahrhunderts' (Eric Hobsbawm) wie kaum ein zweites", schreibt der norwegische Historiker Einhart Lorenz in seiner Brandt-Biografie, in der die frühen Jahre im skandinavischen Exil eine besondere Rolle spielen.
Mit 19 Jahren war der junge Linkssozialist Herbert Frahm aus dem Lübecker Arbeitermilieu, unehelicher Sohn einer alleinerziehenden Mutter, nach der Machtübernahme durch die Nazis nach Norwegen geflohen. Mit der SPD hatte er gebrochen. Er war in der radikalen SAP aktiv und von einem früheren kurzen Aufenthalt bei den norwegischen Genossen bereits bekannt.
Alsbald schrieb Frahm unter seinem inzwischen angenommenen Decknamen Willy Brandt in linken Gazetten politische Artikel über Deutschland unter den Nazis. Das war nicht unwichtig. "Die großen bürgerlichen Blätter", so Lorenz, "berichteten nichts oder nicht ohne Sympathie über die Vorgänge im Dritten Reich'." Brandt/Frahm versuchte, die Lücke mit Gegenaufklärung zu füllen.
Der jugendliche Vollblutpolitiker arbeitete aber nicht nur als Journalist. Er engagierte sich in der norwegischen Szene, beteiligte sich an den internen Auseinandersetzungen, versuchte die norwegische Partei zu radikalisieren (wurde aber Zug um Zug selbst sozialdemokratisiert) und nahm teil an der Widerstandsarbeit gegen den NS-Staat.
1936 begab er sich im Auftrag der Pariser SAP-Zentrale mit gefälschten Papieren als norwegischer Student nach Berlin. Es begann eine kaum bekannte, aber hochgefährliche Phase im politischen Vorleben des späteren deutschen Kanzlers. Als Undercover-Agent sollte er in der Reichshauptstadt die Lage erkunden und den verbliebenen SAP-Genossen bei der Widerstandsarbeit helfen.
Eigentlich ein Himmelfahrtskommando und ein Risiko, das sich in seinen Augen nicht lohnte. Die wenigen verbliebenen Genossen waren zu einer organisierten Widerstandsarbeit nicht in der Lage, vor allem auch, weil sie ideologisch völlig zerstritten waren.
Brandt brach die Mission ab, den Streit mit der SAP-Exilleitung in Paris nahm er in Kauf. Anschließend ging er nach Spanien, zur Berichterstattung über den Bürgerkrieg.
Er erlebte den Kampf der Republik gegen die Faschisten und den Krieg im Krieg, den die sowjetisch gesteuerten Kommunisten gegen die Demokraten führten. Seine Entwicklung zum linken Antikommunisten wurde dadurch beschleunigt.
Als die Deutschen Norwegen besetzten, floh Brandt mit seiner norwegischen Frau und der gemeinsamen Tochter nach Stockholm. Dort lernte er die Kreiskys kennen, ebenso seine spätere zweite Frau Rut. Bruno Kreisky hatte seine ganz eigenen Erfahrungen mit dem Faschismus mitgebracht.
1936, in dem Jahr, in dem der 23-jährige "Willy" in Berlin vor der Gestapo auf der Hut sein musste, hatte der 25-jährige "Bruno" in Wien im Gefängnis gesessen. Die beiden Exilanten konnten einander also einiges erzählen. Stockholm war ihr Casablanca – "der Beginn einer wunderbaren Freundschaft".
Beide, Brandt und Kreisky, hatten es nach dem Krieg nicht leicht mit der Rückkehr in ihre Heimat. Ihnen begegnete man mit Misstrauen, Ablehnung, Feindschaft. Besonders zu spüren bekam es Brandt.
Alles wurde in Deutschland gegen ihn in Stellung gebracht, vom politischen Gegner und von den Neidern und Feinden in der eigenen Partei (nun wieder die SPD): die uneheliche Geburt, die Scheidung von der ersten Frau (Carlota), die Wiederverehelichung (Rut) und dann die giftigen Parolen: Was hat Brandt draußen gemacht? Hat er auf Deutsche geschossen? Hat er "Verrat" begangen?
Bis in die 1960er-Bundestagswahlkämpfe, aber vorher in Berlin schon in SPD-internem Machtgerangel sollte diese Flüsterpropaganda eine große Rolle spielen und fatale, anhaltende Wirkung entfalten. Willy Brandt hat unter dieser besonderen Form von Feindseligkeit und Infamie zeitlebens gelitten. Verständlich ist, dass er, so vorgeschädigt, 1974 die internen Intrigen im Gefolge der Affäre um den DDR-Spion im Bonner Kanzlerbüro und die Verknüpfung mit Gerüchten über Frauengeschichten weder abschütteln noch aussitzen wollte.
Musste er deshalb zurücktreten?
Er hätte nicht müssen. Doch irgendwann reicht's eben, nach all dem Vorlauf, all die Jahre. Der unnötigste Kanzlerrücktritt der deutschen Nachkriegsgeschichte blieb so ausgerechnet dem erfolgreichsten Kanzler vorbehalten.
Doch die Erinnerungen an Willy Brandt gehen über diesen grotesken Zwischenfall hinaus. Das war ja noch lange nicht das Ende der Geschichte. Zum Glück.
In dieser Rezension ebenfalls besprochen: