

Hitlers Kampf für das deutsche Frühstücksei
Wolfgang Zwander in FALTER 51/2015 vom 18.12.2015 (S. 16)
Nach den bahnbrechenden „Bloodlands“ vergleicht Timothy Snyder in „Black Earth“ erneut Hitlers und Stalins Vernichtungsmaschinerien
Als deutsche Panzer 1939 über die polnische Grenze rollten, sagte Zygmunt Bauman zu seinem Vater, die Familie müsse Polen sofort verlassen, weil die Nazis bald alle Juden umbringen würden. Der Vater zweifelte zuerst an den Worten des 14-jährigen Zygmunt, ließ sich dann aber zum Glück für die Familie doch überzeugen. Die Baumans packten ihr Hab und Gut auf einen Karren und flüchteten in die Sowjetunion. Bald darauf begannen die Nazis mit der Deportation und Vernichtung der polnischen Juden.
Zygmunt Bauman sann auf Rache, ging in Russland zur Armee und kehrte als Soldat unter sowjetischem Oberbefehl in seine alte Heimat zurück. Zwischen 1945 und 1953 arbeitete er als Agent für den Sicherheitsdienst in Polen und verfolgte Nazi-Kollaborateure und Mitglieder des antikommunistischen Widerstands. 1968 emigrierte der mittlerweile zum Wissenschaftler gewordene Bauman nach Israel, als Reaktion auf eine antisemitische Welle an den polnischen Universitäten. 1971 erhielt er den Ruf an die Universität Leeds in England, wo der Soziologe von Weltrang bis heute lebt.
Biografien wie die von Bauman sind Teil des Forschungsgebiets des US-Historikers Timothy Snyder, der sich intensiv und eindrucksvoll mit der Geschichte Osteuropas im Zweiten Weltkrieg beschäftigt hat. Trotzdem will sich Baumans Leben nicht recht in Snyders Werk einfügen. Snyder publizierte 2010 das vielfach ausgezeichnete Buch „Bloodlands“, heuer legte er mit „Black Earth“ nach. In beiden Werken beschreibt er die Vernichtungspolitik, mit der Hitler und Stalin weite Teile Osteuropas an sich gerissen und unter sich aufgeteilt haben.
Verschwommene Unterschiede
Die Millionen Opfer Hitlers in Osteuropa sind mittlerweile weitgehend bekannt; die Millionen osteuropäischer Opfer der Politik Stalins jedoch nur in viel geringerem Ausmaß, zumal im deutschsprachigen Raum. Die Rote Armee siegte im deutsch-sowjetischen Krieg und der Kreml zeigte danach nur wenig Interesse an der Aufarbeitung ihrer Gräueltaten. Snyder ist hoch anzurechnen, dass er diese Lücke gefüllt hat.
Gleichzeitig führt Snyders eingehende Beschäftigung mit den „Bloodlands“ in Osteuropa aber auch dazu, dass in seinen Werken die Unterschiede zwischen Hitler-Deutschland und der Stalin-Sowjetunion verschwimmen. Dieser Punkt an Snyders Arbeit wurde in der Wissenschaft bereits vielfach kritisiert. Nicht unbedingt zu Unrecht. Allein die Biografie Zygmunt Baumans zeigt etwa, wie unterschiedlich Berlin und Moskau am Ende doch waren. Denn umgekehrt gedacht hätte ein polnischer Jude bei den Nazis wohl keine Zuflucht vor den Sowjets gefunden, geschweige denn Karriere im Sicherheitsapparat gemacht.
Es gab zweifellos auch Parallelen zwischen Nazis und Sowjets. Und natürlich ist es richtig, dass sich Hitler und Stalin im Zeichen des Molotow-Ribbentrop-Pakts Osteuropa aufgeteilt haben. Aber hätte die Sowjetunion nach Hitlers Angriff nicht erfolgreich gegen Deutschland gekämpft, gäbe es nicht nur Biografien wie jene Baumans nicht. Der Krieg wurde zu großen Teilen auf ukrainischem und weißrussischem Boden ausgetragen. Aber Kopf und Zentrale des sowjetischen Staates lagen in Moskau.
Die Frage nach der Staatlichkeit ist eines von Snyders zentralen Motiven in „Black Earth“. Nur Staaten, die nicht zerschlagen wurden, konnten NS-Flüchtlingen Sicherheit bieten. So führt Snyder an, dass die Deportation und Vernichtung von Juden mit der gezielten Zerstörung von Deutschlands Nachbarstaaten korrelierte.
Frage nach der Staatlichkeit
In Österreich und Polen gab es etwa auch vor dem Machtantritt der Nazis keinen Mangel an Antisemitismus, aber erst die Zerschlagung Österreichs und Polens machte die Juden zu Menschen fern jedes Rechtsanspruchs. So war den Juden in Deutschland auch fünf Jahre nach Hitlers Machtergreifung die Brutalität fremd, mit der die Juden in Wien sofort nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 terrorisiert wurden. Snyder schreibt: „1938 verließen rund 60.000 Juden Österreich, während es in Deutschland im selben Zeitraum nur 40.000 waren. Und die meisten dieser 40.000 wanderten erst aus, als die Nazis ihre in Wien gelernten Lektionen auf Deutschland anzuwenden begannen.“
Snyders Hauptthese in „Black Earth“ ist, dass Hitler die Sowjetunion kolonisieren wollte, um den Lebensstandard der deutschen „Herrenrasse“ zu erhöhen. Goebbels nannte es den „Kampf für einen voll gedeckten Frühstücks-, Mittags- und Abendtisch“. Wollte Deutschland Großmacht werden, brauchte es laut Hitler „genauso viel Technologie wie die Amerikaner und genauso viel Land“.
In Hitlers Weltbild waren die russischen Slawen eine Art Indianer. Snyder schreibt: „Die minderwertigen Rassen waren in seinen Augen unfähig zur Staatenbildung. Demnach musste das, was scheinbar ihre Regierungen waren, eine Täuschung sein – eine Fassade jüdischer Macht. Hitler behauptete, die Slawen hätten sich niemals selbst regiert. Die Gebiete im Osten seien stets von fremden Elementen beherrscht worden.“ Die Slawen würden „wie Indianer kämpfen, mit dem gleichen Ergebnis. Anschließend werde sich im Osten zum zweiten Mal ein ähnlicher Vorgang wiederholen wie bei der Eroberung Amerikas.“
Umso größer muss der Schock für die Deutschen gewesen sein, als die Sowjets, laut Hitler nicht einmal zur Staatenbildung fähig, 1945 in Berlin standen. Spuren dieser NS-Tradition der Verachtung alles Russischen sind bis heute in der deutschen Öffentlichkeit zu finden. Snyder hat mit „Black Earth“ jedenfalls ein anregendes und lesenswertes Werk veröffentlicht, das manchen Zusammenhang verdeutlicht oder neu aufzeigt.