

Arrogante Zivilisation mit radikaler Selbstkritik
Thomas Leitner in FALTER 41/2017 vom 13.10.2017 (S. 52)
Geschichte: Bernd Roeck entwirft mit einer Geschichte der Renaissance eine Programm für ein weltoffenes Europa
Bis jetzt ist Bernd Roeck mit präzisen Detailstudien wie der Chronik seiner Heimatstadt Augsburg oder der packenden kriminologischen Monografie über Piero della Francescas „Geißelung“ in Erscheinung getreten. Nun der ganz große Wurf: „Der Morgen der Welt“ verspricht im Untertitel eine Geschichte der Renaissance, erst auf Seite 450 ist man bei der herkömmlich so genannten Periode angekommen. Längst ist da klar, dass hier ein viel weiterer Bogen gespannt wird.
Eingangs entschuldigt sich der Autor, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich, beim „versierten Leser“, es würde zunächst vielleicht allzu Bekanntes angesprochen. Das mag bei der Entwicklung von Schrift und Alphabet im Alten Orient auch stimmen. Wie aber Fakten, die als Allgemeingut gelten sollten, mit überraschenden Details verknüpft werden, gibt dem Text seine fesselnde Lebendigkeit. Wichtiger noch: Sehr schnell, vor allem in den Ausführungen zur griechischen Antike und dem frühen Christentum, erscheint ein roter Faden, der sich durch das 1300 Seiten starke Konvolut zieht.
Über die Frage hinaus, wie es zur geistigen und künstlerischen Blütezeit des italienischen Trecento und Quattrocento kommen konnte, wird mit einem Begriff des Autors nach der „großen Divergenz“ gefragt, nach der Bedingung der Möglichkeit einer Sonderstellung „Lateineuropas“ vom Römischen Reich bis zur Übermacht des Westens in der Industriellen Revolution und dem damit einhergehenden Imperialismus.
Nichts weniger als eine Universalhistorie, die soziale und politische, Geistes- und Kunstgeschichte in weltbürgerlicher Absicht zusammendenkt, entsteht vor dem Leser. In vielfältiger Weise ist diese Darstellung lebendig bebildert – damit sind die (nicht so zahlreichen, aber prächtigen) Illustrationen gemeint, mehr aber noch, dass sich die weitläufige Belesenheit des Wissenschaftlers mit erzählerischem Talent vereint – und einem Hang zu geradezu poetischer Begriffsbildung. So liefert schon das Inhaltsverzeichnis einen animierenden Vorgeschmack auf das Gesamtunternehmen.
Mag sein, dass dies manchem zu weit geht, allzu elegante Formulierungen als Manierismen erscheinen mögen. Wichtiger ist es, dass es die Leselust bei dem für den Rezipienten anspruchsvollen Werk steigert.
Belesenheit bildet ein zentrales Movens der europäischen Geschichte: der Hang zur Lektüre und Reanimation immer vielfältigerer Schichten aufgedeckter Vergangenheit. Weit mehr als ein verlorenes Goldenes Zeitalter motiviert die Auseinandersetzung mit vergangenen Konflikten und ihren stets ephemeren Lösungen zur Selbstreflexion. So entwickelt sich im kleinräumigen Europa mit seinen vielen Zentren eine einmalige Übersetzungskultur.
Neben dem „horizontalen“ Austausch fruchtbar konkurrierender höfischer und kirchlicher Machtpole wird begierig auch Fernstes aufgenommen (von „Altgier und Neudurst“ spricht Roeck in einem seiner schönsten Bilder). Möglich wird dies vor allem, da das Christentum das „griechische Gen“ in sich trägt, den Hang zum Agonalen, zum Wettstreit mit (auch) rationalen Mitteln.
Das führt trotz aller Religionskriege und immer wieder auftretender eifernder Verkünder von „Reinheit“ zu einer allmählichen Säkularisierung. Einen Höhepunkt bildet die Apologie des gedruckten Buches, das zu einer Explosion der Kommunikation führte, den „Gesprächsraum Europa“ konstituierte.
Die soziale Struktur erlaubt durch eine gewisse Durchlässigkeit, dass sich Handwerker und Wissenschaftler, Künstler und Philosophen in einem Bereich permanent möglicher Kommunikation befinden, und generiert neben ständiger Expansion auch langsam Ideen von Freiheit und Würde des Menschen, die in der Renaissance eingehender diskutiert wurden als zuvor.
In den folgenden Jahrhunderten bahnt sich trotz der Kolonialgeschichte die Auffassung den Weg, dass diese Menschenrechte universal seien. Roeck schließt mit der Bemerkung des Aufklärers Diderot, dass „sich die arroganteste aller Zivilisationen am radikalsten der Selbstkritik hingebe“.
Das soll ihre dunklen Seiten nicht verstecken, sondern als Aufgabe bis in unsere Zeit betrachtet werden. Roeck verkündet das nicht mit erhobenem Zeigefinger, erläutert es aber aufs Deutlichste. Ein Kompendium (nicht nur) abendländischen Wissens, eine wahrhaft „Große Erzählung“, eine Programmschrift für ein weltoffenes Europa.