

Kennen Tiere Sorge, Glück oder Schuld?
Peter Iwaniewicz in FALTER 11/2017 vom 15.03.2017 (S. 33)
Natur: Carl Safinas Streitschrift wider die menschliche Hybris, als einziges Lebewesen Gefühle zu besitzen
Seitdem sich unsere westliche Kultur vor Jahrtausenden aus einem animistischen Verständnis der Welt gelöst hat, gelten Tiere nur mehr als unbeseelte Lebewesen, als „Rohstoffreserve“, und sind keine Rechtssubjekte. Auch die Wissenschaft sah in ihnen meist nur Reiz-Reaktions-Maschinen und versuchte bis ins späte 20. Jahrhundert hinein, Tieren jegliches emotionale Erleben abzusprechen. Verhaltensforscher nahmen bei ihren Beobachtungen nie Gefühle bei anderen Lebewesen wahr, sondern sprachen nur von positiven oder negativen „Tönungen“.
Die renommierte Fachzeitschrift Annals of the New York Academy of Sciences lehnte Jane Goodalls ersten wissenschaftlichen Aufsatz über Schimpansen ab, weil sie den Tieren Namen gegeben hatte, anstatt sie nur zu nummerieren. Der Herausgeber bemängelte weiters, dass Goodall „er“ oder „sie“ schrieb, wenn sie über die Menschenaffen berichtete, statt dafür „es“ zu verwenden.
In den letzten zwei Jahrzehnten wagten es weitere Autoren, in der Nachfolge von Jane Godall Bücher über andere Menschenaffen oder Vogelarten zu schreiben und diesen Persönlichkeit und Individualität zuzugestehen. Mittlerweile gibt es viele Belege dafür, dass auch Tiere eine Vielzahl von Empfindungen besitzen. Sind diese neben den urtümlichen Emotionen wie Angst und Aggression auch zu Gefühlen wie Sorge, Glück oder Schuld fähig?
Diese Frage ist nicht nur philosophischer Natur, denn das Verständnis der Gefühlswelt bietet einen Zugang zum Intellekt und dem Bewusstsein von Lebewesen. Genau darum geht es in dem neuen Werk von Carl Safina, einem vielfach ausgezeichneten US-amerikanischen Biologen und Buchautor. Das macht auch schon der deutsche Buchtitel klar: „Die Intelligenz der Tiere. Wie Tiere fühlen und denken“. Emotionen und bewusstes Denken kann man weder trennen noch als verschiedene Leistungen eines Lebewesens betrachten.
Der Mensch versteht zwar die Welt so gut wie kein Lebewesen zuvor, doch sein Verhältnis zu ihr war noch nie so schlecht. Deswegen geht Safina der Frage nach, mit wem wir Menschen eigentlich auf dieser Erde leben. Als Naturwissenschaftler stellt er aber nicht einfach Behauptungen in den Raum, sondern sucht nach klaren Beweisen für das Bewusstsein der anderen Tiere neben uns. Und das – so viel sei hier schon vorweggenommen – gelingt ihm in grandioser Weise.
Sein Buch beinhaltet mehrere Ebenen: Es erzählt vom Leben in fernen Weltgegenden, wo er und andere Forscher Wildtiere in ihrer natürlichen Umgebung beobachteten. Diese Berichte sind so lebendig geschrieben, dass man als Leser förmlich in die jeweiligen Szenerien hineingesaugt wird und das Gefühl hat, ihm über die Schulter zu blicken. Gleichzeitig erfährt man über die drei scheinbar gut erforschten und bekannten Tierarten Wale, Wölfe und Elefanten so viel Neues, dass man sich am Ende wundert, wie dies alles auf 500 Seiten Platz finden konnte. Dabei sitzt jeder Satz, es gibt kein Herumschwadronieren, und nie stellt sich beim Lesen das Gefühl ein, manche Ausführungen seien doch etwas zu langatmig.
Im Gegenteil, en passant, manchmal nur in einem Nebenabsatz erfährt man Erstaunliches: Tierverhaltensforschung ist eine junge Wissenschaft, die erst 1920 mit der Erforschung der Hackordnung unter Hühnern ihren Anfang genommen hat. Oder dass im Jahr 2012 Wissenschaftler in der „Cambridge Declaration on Conciousness“ erstmals festgehalten haben, dass „alle Säugetiere und Vögel, so wie viele andere Lebewesen wie etwa Kraken, Nervensysteme haben, die Bewusstsein ermöglichen“.
Und während man noch über die Bedeutung dieser Aussage nachdenkt, führt einen Safina schon weiter und berichtet Unerhörtes und Ungehörtes über die fast telepathisch anmutenden Fähigkeiten der Elefanten, die sich durch tieffrequentes „Kollern“ über zehn Kilometer für uns unhörbar unterhalten können. Die „Ohren“ für diese Töne liegen dabei in ihren Fußsohlen, wo sogenannte Pacinische Körperchen die Vibrationen im Erdboden ertasten.
Höhepunkt in diesem Buch ist aber sicherlich die Art und Weise, wie Safina uns diese Tierarten als individuelle Lebewesen näher bringt, die auch trauern können, Mitleid zeigen und Freude am Leben haben. Wie bei guten Naturfilmen zoomt Safina dabei ganz nahe an die Tiere heran, denen man dann im doppelten Sinn des Wortes auf Augenhöhe begegnet, und man meint, ihnen direkt in ihre Seele – im Sinn eines erweiterten organismischen Verständnisses – blicken zu können.
Nach der Beschreibung des Familienlebens einer Elefantengruppe schreibt er: „Viele Leute träumen davon, im Fall eines Lottogewinns ihren Job hinzuschmeißen und sich nur noch den schönen Dingen des Lebens zu widmen: Freizeit, Spiel, Familie, Elternschaft und zwischendurch aufregendem Sex. Sie würden essen, wenn sie Hunger hätten und schlafen, wenn sie müde wären. Viele Leute lebten, würden sie über Nacht reich, genauso wie die Elefanten.“
Und nicht zuletzt ist dieses Buch eine Streitschrift wider die menschliche Hybris, die sich als eine alle anderen Lebewesen dominierende Lebensform auf diesem Planeten versteht. Konsequent, aber undogmatisch zeigt uns Carl Safina, dass das Leben ein großes Ganzes ist, in dem andere Tiere ebenso ein Leben wie wir führen. Wie wir, nur auf andere Weise.
Oder um es mit den weniger versöhnlichen Worten des deutschen Tierethikers und Philosophen Richard David Precht zu formulieren: „Es gibt zwei Kategorien von Tiere. Die eine glaubt, dass es zwei Kategorien von Tieren gibt, und die andere hat darunter zu leiden.“ Absolute Leseempfehlung für alle, die nicht nur eine exklusiv menschliche Sicht auf die Welt suchen!