

Der König ist weg, es lebe das Chaos
Florian Baranyi in FALTER 11/2018 vom 14.03.2018 (S. 23)
Romane von Waguih Ghali und Omar Robert Hamilton geben Auskunft über das postkoloniale Ägypten
Am 25. Jänner 2011 erreichte die Protestwelle des Arabischen Frühlings Ägypten. Im ganzen Land begannen Demonstranten, den Rücktritt des Staatsoberhauptes Husni Mubarak zu fordern. Als die Revolution dieses „Tag des Zorns“ tatsächlich dessen Rücktritt und freie Wahlen erzwang, schien jene Macht gebrochen worden zu sein, die das nordafrikanische Land seit dem Sturz von König Faruk 1953 in militärisch kontrollierter Scheindemokratie gefangen gehalten hatte.
Zwei Neuerscheinungen geben Einblick in den politischen Kampf der Ägypter von den 1950er-Jahren bis zu den noch immer spürbaren Nachwehen des Arabischen Frühlings. Während Waguih Ghalis bereits 1964 erschienener Roman „Snooker in Kairo“ von der postkolonialen Identitätskonstruktion der jungen, europäisch geprägten Oberschicht Ägyptens unter der Herrschaft des Offiziers Gamal Abdel Nasser erzählt, liefert der 1985 geborene Filmemacher Omar Robert Hamilton mit „Stadt der Rebellion“ eine knallharte Dokufiktion aus dem Inneren der Revolution. Die beiden Romane trennt nicht nur ein halbes Jahrhundert ägyptischer Zeitgeschichte, sie unterscheiden sich auch durch den grundlegend verschiedenen literarischen Zugang.
„Snooker in Kairo“ liefert die whiskygetränkte und mit feinem britischen Understatement gewürzte Lebensgeschichte des Ich-Erzählers Ram, wobei sich die deutsche Erstübersetzung dieses Romans als literarischer Glücksfall entpuppt. Mitte 20 und nach längerem Englandaufenthalt wieder in Kairo gestrandet, trinkt sich Ram mittellos, aber mit gütigen und finanziell potenten Freunden versehen durch diverse Bars und Clubs der Stadt.
Rams Hauptbeschäftigung besteht darin, Pokerschulden anzuhäufen und seiner Verwandtschaft, die ihn von diesen Verbindlichkeiten erlöst, eine lange Nase zu drehen. Die Konversation verläuft mit französischen Einsprengseln und unter Aufgebot allen intellektuellen Scharfsinns, mit dem Ram seine bösartigen Bonmots anbringt. Tiefgang gewinnt der blasierte Snob aber schnell durch den Umstand, dass er in seinem sozialen Umfeld eigentlich ein Fremdkörper bleibt: „Mir war nie in den Sinn gekommen, dass zwar meine Tanten sehr reich waren, meine Mutter aber nicht. Ich dümpelte auf der Woge des Wohlstands dahin. Ich war genauso gut gekleidet wie die anderen Waisen und besuchte dieselbe Schule. Machte einer der Waisen seinen Abschluss, wurde er teuer ausgestattet und nach England, Frankreich oder die Schweiz geschickt.“ Letzteres ist für Ram freilich nicht vorgesehen. Er und sein Kindheitsfreund Font müssen andere Wege finden, um sich eine Ausbildung in Europa zu sichern.
In der Rückschau erzählt Ram von den ersten Studienjahren, in denen er und Font Edna begegnen. Die millionenschwere junge Frau fasziniert ihn. Während der Konflikt um den Suezkanal zwischen Ägypten und Großbritannien, Frankreich und Israel sich zuspitzt, engagiert sich die Jüdin Edna als überzeugte Kommunistin für das Wohl der armen Bevölkerung Ägyptens. Ram, dem vor so viel Widerspruch der Kopf schwirrt, wird Ednas Geliebter. Zusammen ziehen die drei nach London, wo Ram und Font der Aufenthaltsbehörde ein Schnippchen schlagen, während Edna plötzlich verschwindet, allerdings nicht ohne ihre Freunde mit ausreichend Geld für ihr Studium zu versehen.
In der britischen Hauptstadt verwandelt sich Ram rasch in einen arroganten Aufreißer und Bohemien. Wie er selbst diese Entwicklung beschreibt, gehört zum Besten, was die postkoloniale Literatur zum Thema der hybriden Identitäten hervorgebracht hat: „Dieser Moment, in dem ich meinen Mantel überzog, war der Anfang – das erste Mal in meinem Leben, dass ich spürte, wie ich mich in zwei aufspaltete, in einen, der sich an allem beteiligt, und einen, der beobachtet und ein Urteil fällt. Aber damals war es noch keine vollkommene Spaltung, die beiden Kräfte fingen gerade erst an auseinanderzustreben.“
Der Riss, der durch Ram geht, bestimmt den weiteren Verlauf des Romans. Der handelt im Wesentlichen von der Rückkehr nach Kairo. Die Distanzierung von Font und Edna nimmt Ram genauso in Kauf wie die teilweise Anbiederung an die Vorstellungen seiner Familie – die innere Gespaltenheit aber bleibt.
Omar Robert Hamilton wählt in „Stadt der Rebellion“ einen grundverschiedenen, aber nicht minder überzeugenden Ansatz. Er beginnt seine Schilderung des Arabischen Frühlings im Oktober 2011. Mubarak ist zurückgetreten, und die militärische Übergangsregierung hat baldige Wahlen zugesagt.
Der Konflikt zwischen der demonstrierenden Jugend und dem Militär eskaliert allerdings, in der Stadt Maspero verüben Soldaten ein Massaker an 27 Kopten. Vier junge Leute, deren Ausbildung irgendetwas mit Medien zu tun hat, beschließen, nicht nur in die Auseinandersetzung auf der Straße einzugreifen, sondern auch auf Facebook und Twitter mitzumischen. Als „Chaos Collective“ produzieren sie Podcasts und interviewen die Eltern ihrer getöteten Mitstreiter.
Im Zentrum des Romans steht Khalil, ein im amerikanischen Exil geborener Palästinenser, der aus musikalischem Interesse in Kairo gelandet ist. Er agiert als Videocutter des Kollektivs, während seine Freundin Mariam, die Kontakt hält zu den politischen Gefangenen und die medizinische Versorgung organisiert, zur rasenden Projektmanagerin des Aufstandes wird.
Über zwei Jahre begleitet Hamilton die beiden in atemlosen Präsenssätzen. Dabei wird den Figuren weder Zeit gegönnt, sich zu entwickeln noch zu schlafen. Khalil ist der Weitsichtigste der Gruppe und vergleicht die Situation nach der Wahl des Muslimbruders Mohammed Mursi und dem Putsch der Armee unter Abdel Fatah al-Sisi schon früh mit jener von failed states. Seine Mitstreiter aber wollen die Dynamik von scheinbarer Demokratisierung und erneutem diktatorischen Backlash nicht wahrhaben: „Alles ist jetzt anders. Wir haben Mobiltelefone und das Internet, Alter. Es braucht mehr als nur eine Armee, um ein Volk unter Kontrolle zu halten.“
Die Folgen der Digitalisierung beflügeln den Mut der Aktivisten, aber richten letztlich gegen die Machtverhältnisse nichts aus. Hamiltons Erzählen ist von einer agonalen Intensität, die das Dauerfeuer aus Aktion und Repression in seiner schonungslosen Brutalität zum Leseerlebnis macht.