

Können sich Land und Stadt ergänzen?
Gerlinde Pölsler in FALTER 11/2020 vom 11.03.2020 (S. 34)
Landleben: Der Geograf Werner Bätzing legt eine dichte Analyse der Entwicklung des ländlichen Raums vor
Seit Jahrzehnten besucht und analysiert der deutsche Geograf und Alpenforscher Werner Bätzing ländliche Räume und Dörfer und legte selbst bei der Weiterentwicklung Hand an. In Nürnberg begleitete er eine der ersten Initiativen für Regionalprodukte, in einer fränkischen Gemeinde konzipierte er einen Kulturweg. In seinem neuen Buch macht der emeritierte Professor gleich klar, wo er selbst steht. Der ländliche Raum sei „keineswegs ein Ausdruck überholter Verhältnisse“. Stadt und Land würden einander ergänzen und nur gemeinsam ein „gutes Leben“ ermöglichen.
Es ist eine scharfe und sehr dichte Analyse, die Bätzing aus seiner langjährigen Beschäftigung mit dem Thema mitnimmt. Und eine ungewöhnliche: Er schreibt eine Kulturgeschichte, vom Land aus erzählt. Dafür geht er weit zurück, genau gesagt bis 10.000 v. Chr., als die ersten Bauern mit dem Anbau von Früchten und der Tierhaltung begannen. Die Innovationen der Landwirtschaft waren laut Bätzing überhaupt erst Voraussetzung für Bevölkerungswachstum und das Aufblühen der Städte.
Doch mit dem Übergang zur Industriegesellschaft, vor allem aber mit deren Ende, sei der ländliche Raum schrittweise entwertet worden. So richtig bergab gegangen sei es aber erst seit den 1960er-Jahren. „Das Landleben der 1950er-Jahre steht dem mittelalterlichen Leben noch sehr viel näher als den heutigen Lebensverhältnissen.“ Bätzing muss es wissen, er selbst kam 1949 in einem Dorf mit 300 Einwohnern zur Welt.
Er beschreibt, wie erst Arbeitsplätze in der Landwirtschaft verloren gingen und dann in der Industrie. Mit dem Sieg der Dienstleistungsgesellschaft sei das städtische Umfeld mit Universitäten und kreativen Milieus zum Um und Auf geworden. Die Hoffnung, das Internet würde dem Land einen Kick geben, sei trügerisch gewesen, denn die Kreativen bräuchten ein städtisches Umfeld und seien wenig interessiert am Landleben. Im Tourismus und bei der Herstellung erneuerbarer Energien täten sich für das Land zwar neue Chancen auf, doch könnten diese die gegenläufigen Entwicklungen auch nicht wettmachen.
Besonders erhellend sind Bätzings Analysen zur Entwicklung des Raumes: Landwirtschaftliche Flächen gingen zurück, während der Wald zulegte, doch beide verloren extrem an Artenvielfalt. Entstanden seien „monofunktionale ,Agrarwüsten‘“, mit denen die Menschen sich nicht mehr identifizierten.
Enorm gewachsen seien derweil auch die Siedlungsflächen, besonders stark in ländlichen Räumen nahe den Großstädten. Wie in den Städten würden auch am Land die Funktionen immer stärker getrennt: Die Leute zögen in Neubausiedlungen am Ortsrand, die Supermärkte verließen die Zentren, Arbeit und Freizeit spielten sich wieder woanders ab, und für fast alle Wege benötige man ein Auto. Irgendwann sei der Ortskern tot, weil es dort nichts mehr zu tun gebe. All das entwickle sich in chaotischer Weise, weil jede Gemeinde in den Speckgürteln mittels Ausweisung von Wohn- und Gewerbegebieten Zuzügler und Betriebe zu keilen versuche. Das Ergebnis sei verheerend: „Aus vielfältigen Landschaften werden Produktionsräume, die die Gesundheit der Menschen bedrohen und die sie in einem Ausmaß heimat-, ort- und bodenlos machen, dass ihre psychische Stabilität beeinträchtigt wird.“ Ein trauriges Resümee, das aber auch für viele Gegenden Österreichs zu unterschreiben ist.
Nicht gut zu sprechen ist Bätzing auf viele politische Maßnahmen. Über neoliberale Strömungen, die das Schrumpfen der Bevölkerung am Land als Naturgesetz sehen, mag er sich gar nicht länger auslassen. Ebenso wenig hilfreich seien romantisierende „Landlust“-Strömungen, die mit der Realität nichts zu tun hätten. Regionstypische Produkte zu fördern sei zwar eine gute Idee, doch das Ausmaß der Förderungen bleibe viel zu gering. Aber es sei noch nicht zu spät, meint Bätzing, immerhin stelle der ländliche Raum nach wie vor knapp zwei Fünftel der Arbeitsplätze. Einige seiner Vorschläge für eine Trendumkehr: die kulturelle Identität von Regionen unterstützen, wofür sie mehr Autonomie brauchen. Eine Agrarwende. Regionale Besonderheiten wirtschaftlich stärken. Dorfläden mit einem breiten Angebot und zusätzlichen Dienstleistungen wie Café und Sparkasse. Keine neuen Großstrukturen auf der grünen Wiese zulassen.
Bätzing liefert detaillierte Vorschläge für die Typen ländlicher Räume wie Speckgürtel, Tourismus- oder landwirtschaftliche Gebiete. Eine zentrale Aussage dabei: „Das Land muss wieder ländlicher, die Stadt muss wieder städtischer werden.“ Die Landbewohner sollten die spezifischen Qualitäten und Freiräume des Landlebens schätzen lernen. Was das im Einzelnen bedeutet, wird nicht immer ganz klar. So plädiert der Autor für den Erhalt und die Stärkung ländlicher Infrastruktur, warnt aber davor, dass das Land durch massiven Ausbau von Verkehrswegen und des schnellen Internets eine „forcierte Verstädterung“ erleben, jedoch keineswegs gestärkt werden würde.
Gelegentlich tendiert Bätzing selbst zum Weichzeichnen: Wenn er etwa sagt, die meisten Städter nähmen Wechselwirkungen zwischen Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft kaum wahr, während das Landleben zeige, „dass menschliches Leben immer ein multifunktionales Leben ist, das auf verantwortliche Weise gleichzeitig mehrere Ziele verfolgt (Familie, Beruf, Freundschaften, persönliche Interessen, gesellschaftliche Aufgaben)“. Ob sich das wirklich auf Stadt und Land herunterbrechen lässt? In Summe ist Bätzings Buch keine leichte Kost und nicht ohne Widersprüche – doch genau damit wird es wohl der Wirklichkeit völlig gerecht.