

Europäische Entdecker auf Chinas Spuren
Alfred Pfoser in FALTER 43/2020 vom 23.10.2020 (S. 49)
Globalgeschichte: Valerie Hansen erzählt die Geschichte der Globalisierung der Welt ab dem Jahr 1000
Die renommierte Sinologin und Yale-Historikerin Valerie Hansen muss im Vorwort zugeben, dass es um die Quellenlage ihres Themas nicht immer zum Besten steht, dass es an Dokumenten mangelt, dass wir zu oft auf wenige Funde (wie Schiffwracks in Meeren, Grabfunde, Feuerstellen) angewiesen sind und in der historischen Archäologie so der Spekulation Tür und Tor geöffnet ist. In Chichén Itzá, der am besten erhaltenen Mayastadt auf der Halbinsel Yucatán, befinden sich etwa viele Wandgemälde mit Eroberungsszenen. Darunter eines, auf dem Menschen mit hellen Haaren und weißer Haut die Arme hinter dem Rücken gebunden sind. Wer sind diese Unglücklichen, vielleicht Wikinger, die mit ihren Schiffen auf ihren abenteuerlichen Fahrten gar bis nach Mittelamerika abgetrieben oder gekapert wurden? Um 1000 brachen Wikinger, wie Hansen im Eingangskapitel erzählt, Richtung Westen, nach Island und Grönland, auf und kamen zumindest bis Neufundland. Auch innerhalb Europas gehörten die Wikinger zu den umtriebigsten Fernreisenden, die in dieser Zeit entlang neuer Routen Waren beförderten oder Siedlungsgebiete suchten.
Auch gegen den dick auftragenden Titel des Buches „Das Jahr 1000. Als die Globalisierung begann“ formuliert Hansen Einwände. Sie gibt zu, dass es sich bei den Handelsstraßen nicht um eine Globalisierung im heutigen Sinn handelte. Aber schnell schiebt sie diese Einwände beiseite, um die im Detail gewiss spannenden Ergebnisse der Forschung unter diesem Begriff zu präsentieren. Ein bisschen merkwürdig mutet die Euphorie an, mit der sie dies macht. Generalisierend, mit Kapiteln über die meisten Regionen der Erde resümiert die Autorin: Die Jahre um die Jahrtausendwende waren der erste große Aufbruch, in dem sich transkontinentale Netzwerke entwickelten. Wichtige Tools des modernen Verkehrs und Handels (vom Kompass bis zum Papiergeld) wurden damals geschaffen.
Damals bildeten sich riesige soziale Gefüge aus. Daraus entstanden zwar keine stabilen Großreiche, aber trotzdem waren Trends zu größeren Einheiten feststellbar. Die Weltreligionen – das römische und orthodoxe Christentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus – setzten sich um etwa 1000 mit Massenkonversionen vollends durch und ließen kleinräumige Religionen verschwinden. Ein gemeinsamer Glaube erleichterte Verständigung und Handel. Die angestammte Region verstand sich als Teil einer größeren Einheit. Grosso modo hat sich die damals geschaffene religiöse Landkarte in Asien bis heute erhalten. Ein Großteil dessen, was Hansen zu erzählen hat, kommt in unserem eurozentrischen Geschichtsbild nicht vor. Sie unterstreicht immer wieder, dass im globalen Kontext die dynamischsten Zentren woanders lagen und sich in Bagdad, in China, in Kambodscha (Angkor), Mexiko oder Peru die größten Stadt- und Tempelagglomerationen bildeten. Als wichtige Ressource zur Anhäufung von Reichtum stellte sich die Sklaverei heraus. Quer durch Afrika entstanden Passagen für den Sklavenhandel. Auch im osteuropäischen Raum reüssierte eine Ökonomie der Versklavung. Hansen verblüfft mit dem Hinweis darauf, dass die Wörter Slawen und Sklaven verwandt sind und etymologisch eine gemeinsame Wurzel haben.
Im Zentrum des Buches steht China, die am höchsten entwickelte Region der damaligen Welt. Hansen schätzt, dass dort 100 Millionen der 250 bis 300 Millionen Menschen der Erdbevölkerung lebten. In Millionenstädten an der Küste entwickelte sich eine reiche Kultur, in der die Herrscher angesichts der neuen Tauschwirtschaft innovative Steuersysteme ausklügelten. China pflegte mit Indien, Indonesien, mit dem Iran, der Arabischen Halbinsel, ja, selbst mit Ostafrika kontinuierlichen Güteraustausch. Chinesische Bootsbauer verwendeten Nägel aus Metall und erzielten dadurch höhere Seetauglichkeit. Die dünnwandigen, glänzenden Keramiken, die man anderswo nachzumachen versuchte, aber deren hochwertige Rezeptur und Herstellungsmethode nicht imitiert werden konnten, waren ein Exporthit. Archäologen fanden in den Meerestiefen vor Java ein chinesisches Schiff, das mit 600.000 Gegenständen für den Export beladen war.
In den Metropolen Guangzhou, Quanzhou oder Ningbo wurden Aromastoffe aller Art gehandelt, die Parfüm, Speisen oder Medizin beigemengt und von allen Schichten des Volkes in Anspruch genommen wurden. Im Grab einer Prinzessin aus der nordchinesischen Liao-Dynastie fand man Bernsteinschmuck aus dem Baltikum. Drei Jahrhunderte vor Marco Polo funktionierte die Seidenstraße bereits.
Das europäische „Zeitalter der Entdeckungen“ baute auf vorhandenen Handelsrouten auf. Als Vasco da Gama 1497 das Kap der Guten Hoffnung erfolgreich umsegelt hatte, brauchte er keine Pionierarbeit mehr zu leisten. Er nahm, angeleitet durch einen maurischen Lotsen, die vielbefahrene Route von Ostafrika über den Persischen Golf und Indien nach China. Auch die Eroberer Amerikas bedienten sich der chinesischen Vorarbeit. In Ozeanien machte James Cook im 18. Jahrhundert die Erfahrung, dass Einheimische von der Geografie Polynesiens schon eine relativ genaue Kenntnis hatten. Im Epilog spekuliert Hansen darüber, wie die Welt ohne die Entdeckungsfahrten und Eroberungen der Europäer ausgesehen hätte. Sie meint, dass es nur eine Frage der Zeit gewesen sei, bis die damals bereits bestehenden Handelsnetze ausgebaut worden wären.
Ein Buch, das die herkömmliche Version der Geschichte auf den Kopf stellt. Ein bisschen mehr Nüchternheit hätte ihm allerdings gutgetan.