

Das Geheimnis von Schrift und Sprachen
Sebastian Kiefer in FALTER 42/2021 vom 20.10.2021 (S. 34)
Sprachen: Zwei neue Bücher erklären, wie Schrift und Sprache funktioniert – unterhaltsam und erhellend
Ägäische Philologie – die wenigsten dürften wissen, dass ein solches Fach existiert. Silvia Ferrara lehrt es an der altehrwürdigen Universität Bologna. Das Fachgebiet schließt die großteils unentzifferten vorgriechischen Schriften Kretas und Zyperns ein, doch Ferrara wollte mehr, den Blick aufs große Ganze: Sie wurde Leiterin eines vom Europäischen Forschungsrat finanzierten Projekts, das die Frühzeit aller Schriften ergründet. In „Die große Erfindung. Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften“ präsentiert sie, was sie mit Hilfe von Scharfsinn, Enthusiasmus und einer Kollegenschar entdeckte – und das ist nicht weniger als eine kleine Revolution.
Bis etwa 1980 glaubte man (mehrheitlich), die Schrift sei nur einmal entstanden, im Mesopotamien des späten 4. Jahrtausends v. Chr., als man der Verwaltung und dem Handel zuliebe aus dem Zählen und Etikettieren von Waren die Keilschrift auf Tontäfelchen entwickelte. Heute muss man davon ausgehen, dass Schrift an vier Orten weitgehend unabhängig voneinander entstand: in Ägypten vielleicht sogar etwas früher als in Mesopotamien – Ferrara verweist auf unlängst in Gräbern der vordynastischen Zeit gefundene Proto-Hieroglyphen. Gut drei Jahrtausende alt sind die ersten Zeugen der chinesischen Schrift – sie ist hier bereits so ausdifferenziert, dass es ältere Vorstufen gegeben haben muss. Um die Zeitenwende herum benutzten die mittelamerikanischen Maya eine autonom entwickelte, stark piktorale, bis heute rätselhafte Schrift.
In Ferraras Modell entstand Schrift auch in Mesopotamien erst, als bildhafte Darstellungen mit Zahlen kombiniert wurden. Entscheidend war nicht das Bedürfnis zu verwalten, sondern der viel ältere Trieb des Menschen, sich durch bildhafte Darstellungen zu erkunden und mitzuteilen: 40.000 Jahre alte Höhlenbilder zeigen außer Tieren und Jägern alle möglichen Symbole, von Handnegativformen über Kreise, Zickzacklinien, Dreiecke bis zu Parallellinien. Rückblickend wirken sie wie erste Probeläufe zu schriftzeichenhaften Abstraktionen.
Schrift ist daher auch keine notwendige Bedingung des Entstehens komplexer Gesellschaften: Ganze Reiche wie das der Kusch im heutigen Sudan kamen weitgehend ohne Schrift aus. Umgekehrt sind viele Schriften von sehr kleinen Völkern fern von staatlichen Organisationsimperativen erfunden worden. Alle Schriften der Welt machen von elementaren Linienformen Gebrauch (rechte Winkel wie in L oder T), einfache Geometrien (O, X), die von Konturen der die Lebenswelt umgebenden Dinge abgeleitet sind. Der Grund ist die Bauweise unseres Gehirns: Es ist darauf angelegt, primär die Konturen der Dinge wahrzunehmen, erst sekundär Oberflächenbeschaffenheit etc.
Diese Übertragung von Dingkonturen in Schriftlinien macht für Ferrara die „DNA der Schrift“ aus: Nicht das machtorientierte Organisieren, sondern das zeichnend experimentierende Erkunden von Möglichkeiten der Weltvergegenwärtigung und der sozialen Austauschmöglichkeiten liegen am Ursprung unserer Schriften. Sozialpsychologische Experimente bestätigen diese ein wenig romantisch klingende These.
Gaston Dorren ist Niederländer, Journalist und Sprachen-Enthusiast fern allen Universitäten: Seine Datenbasis sind zuallererst die eigenen Mühen im Erlernen naher und ferner Sprachen. Er schenkt dem Leser mit „In 20 Sprachen um die Welt“ einen farbigen Bilderbogen der 20 meistgebrauchten lebenden Sprachen, indem er vermeidet, was herkömmliche Sprachbücher tun: grammatische und vokabuläre Systeme zu referieren.
Dorren gibt kurzweilig knappe Porträts jeweiliger Individualitäten innerhalb der Sprachfamilie. Wir erfahren, wie konventionell das ist, was uns indoeuropäischen Sprechern so natürlich vorkommt – Flektionen, Personalpronomen, Genus, Markierungen der Wortgattungen. Japanische Damen sprechen eine etwas andere, feinere Sprache als Männer – lassen Bindeverben als unschicklich aus, haben eigene Partikel, um Gesinnungen zu zeigen. Spanier hinwiederum kennen gleich sieben verschiedene Modalitäten von „sein“. Vietnamesen differenzieren Personalpronomen je nachdem, wie Sprecher und Hörer dem Alter, der Verwandtschaft, dem Geschlecht nach zueinander stehen. Dorren bringt dabei das Kunststück fertig, Laien grundverschiedene Typen des Verschriftlichens bis hin zu den aberwitzig komplizierten Systemen der Japaner in unterhaltsamer Kürze nahezubringen. Sprach-Individualitäten sind immer auch Produkte von Kulturkämpfen und politischen Strategien.
Das moderne Türkeitürkisch ist eigentlich eine Erfindung Atatürks, um die eklektizistische Elitensprache des Osmanischen Reichs abzulösen. Das Französische ist bis heute von den barocken Sprachnormierungen der Académie française geprägt, die den homogenen Zentralstaat formieren half. Tamil wurde als göttlich und in nationalistischen Emanzipationskämpfen als Identitätsbildner benutzt. Die hohe, den Eliten vorbehaltene Form des Javanischen wurde erfunden, als eben diese Eliten ihre politische Macht verloren. Die Grammatik des Englischen ist nur deshalb so einfach, weil die Normannen, als sie sich vor 1000 Jahren in England niederließen, sie simplifizierten – und sie wird reduktiver werden, je geringer der Anteil von Muttersprachlern an den Gesamtverwendern wird. Es lässt sich schwerlich ein Buch denken, das uns so anschaulich vorführt, dass wir nichts wissen von der so oft beschworenen und in der Tat wunderbaren Vielfalt der Kulturen – und uns durch seinen Witz zugleich darüber tröstet.
In dieser Rezension ebenfalls besprochen: