

Die Liebe zum Fragment
Alfred Pfoser in FALTER 11/2022 vom 18.03.2022 (S. 38)
Vorweg gibt es ein Dementi: „Die deutsche Geschichte“ gebe es eigentlich nicht. Wer gehört dazu und wer nicht? Wo findet sie statt? Zweifel äußert Michael Wildt, Professor für Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin, im Vorwort auch hinsichtlich der Darstellbarkeit: Eine lineare große Geschichte lässt sich seiner Meinung nach heute nicht mehr schreiben. Auch mit dem Anspruch auf Vollständigkeit und dem einen roten Faden hat er Probleme. Wer eine sogenannte Gesamtdarstellung sucht, wird bei ihm nicht glücklich werden.
Und doch ist dieses Buch über die deutsche Geschichte, die mit dem vertrackten Aufbruch der deutschen Revolution 1918/19 beginnt und mit der desillusionierten „Welt in Trümmern“ 1945 endet, in vielerlei Hinsicht große Geschichtsschreibung. Auch für eine breite Leserschaft, da es nicht nur Wildts enormen Kenntnisreichtum offenbart (120 Seiten Anmerkungen und Literaturverzeichnis), sondern auch spannend und plastisch geschrieben ist. Wer nicht den langen Atem für die 518 Seiten hat, kann sich an die Gebrauchsanweisung des Autors halten: dass die zwölf Essays auch separat, ohne Befolgung der Chronologie, gelesen werden können. Gleichzeitig ergeben sie in ihrer Summe einen ausgezeichneten Überblick.
Wildt greift in den zwölf Kapiteln jeweils ein bestimmtes Jahr heraus. Und auch dieses eine Jahr interessiert ihn nicht in der Gesamtheit, sondern wird um bestimmte Ereignisse wie etwa den Äthiopienkrieg und den Spanischen Bürgerkrieg (1936) gruppiert. Dabei holt der Autor sein enormes Wissen über den allgemeinen Hintergrund sehr geschickt herein, erlaubt sich auch zeitliche Vor- und Rückgriffe.
Bei einigen Kapiteln studiert er große Geschichte ganz konkret an einem bestimmten Ort, etwa wenn er das Zustandekommen des Vertrages von Locarno (1925) oder den deutschen Vernichtungskrieg in Lemberg (1941) schildert. Im Fall der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 gehört seine ganze Aufmerksamkeit der rheinland-pfälzischen Stadt Wittlich, deren stabile katholische Wählermehrheit die Nationalsozialisten innerhalb weniger Monate drehten. Mochte es am Ende des Jahres noch eine ansehnliche Anzahl von Hitler-Gegnern gegeben haben, aus der Öffentlichkeit waren diese verschwunden.
Was war da passiert? Wie kam diese Wende zustande? Welche Gefühle, Stimmungen und Geschichtsbilder waren am Werk? Welche Eindrücke und Einbrüche haben die Lebensläufe geprägt? Wie haben die Menschen große Geschichte erlebt? Wildt arbeitet mit Tagebüchern als Form der Erfahrungsverarbeitung. Drei spielen eine besondere Rolle, weil ihre Schreiber ihn von den 1920er-Jahren bis 1945 begleiten können. Das Diarium des Romanisten Victor Klemperer ist bekannt und berühmt. Als weitere Auskunftsgeber treten ein solider katholischer Gastwirt und eine Tochter aus einer gutbürgerlichen Kaufmannsfamilie auf, die viel auf die deutsche Ehre hält, mit den Nazis sympathisiert, aber gleichzeitig entgegen dem Willen der Eltern ihre große Liebe heiratet, einen jüdischen Ingenieur.
Erfrischend die Perspektivenwechsel, überraschend die Sprünge, die Wildt vornimmt. Dem damals viel beachteten Auftritt der Josephine Baker (1926) oder den Zusammenhängen von Arbeit, Freizeit und Politik widmet er eigene Kapitel. Grandios die Schilderungen von der deutschen Inflation (1923), die er mit den Berichten der verhängnisvollen französischen Besetzung des Rheinlandes verschneidet und als Bruch verortet: In der Erfahrung dieses Jahres wurde der Keim für einen Radikalismus gelegt, der auf die Erwartung eines großen Retters setzte.
„Zerborstene Zeit“ hat sich viel vorgenommen. Was einst als programmatische Ansage vom Philosophen Ernst Bloch formuliert und von vielen Historikern beschworen, aber fast nie eingelöst wurde, versucht das Buch wieder einmal: „Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ zu zeigen wird hier zu Programm und Methode. Nicht übel, das Ergebnis! Michael Wildt, einer der versiertesten Kenner des 20. Jahrhunderts, der viele Einzelstudien verfasst hat (zuletzt 2019 „Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte“), lässt mit Liebe zum Fragmentarischen, zu Widersprüchen und auch zum Verqueren die bekannte und doch so unbekannte deutsche Katastrophengeschichte wieder lebendig werden.