

Zarathustra beim Denken zusehen
Oliver Hochadel in FALTER 11/2022 vom 18.03.2022 (S. 35)
Vor über 30 Jahren besuchte ich einige Semester lang Vorlesungen zu Friedrich Nietzsche. Der Walrossschnauzerträger war damals wieder einmal sehr angesagt. Aber woran erinnere ich mich noch? Daran: dass Elisabeth Förster-Nietzsche aus dem Nachlass ihres Bruders ein Werk destillierte, das es nie gab: „Der Wille zur Macht“. Damit diente sie sich den Nazis an. Unser Professor empfahl daher die neue, überaus schicke Taschenbuchausgabe. Dass die beiden Herausgeber dieser „definitiven Edition“ Nietzsches Italiener waren, wunderte uns damals.
Wie es dazu kam, erzählt nun Philipp Felsch, Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, mit seiner gelungenen Doppelbiografie von Giorgio Colli (1917–1979) und Mazzino Montinari (1928–1986). Schon in seinem letzten Buch, „Der lange Sommer der Theorie“, hat Felsch eindrücklich bewiesen, dass man über vermeintlich schwer vermittelbare Sujets wie poststrukturalistische Philosophie gleichermaßen kluge wie gut lesbare Bücher schreiben kann. Sein Erfolgsrezept: Kontextualisierung, Personalisierung und ein eigener Stil. Ob es um die ideologischen Grabenkämpfe im Nachkriegsitalien geht oder die Verästelungen der französischen Nietzsche-Rezeption der 1960er-Jahre: Felsch vermag diese intellektuellen Debatten mit wenigen Sätzen prägnant zu skizzieren.
Er erzählt flott und präsentiert die historischen Akteure mit einer Mischung aus Empathie und leichter Ironie. Colli ist in den letzten Kriegsjahren in Lucca Montinaris Philosophielehrer. Er begeistert einen kleinen Kreis von Schülern für die Philosophie der Griechen und den verkrachten Professor für Gräzistik, also Altgriechische Philologie, Friedrich Nietzsche. Montinari tritt aber später der Kommunistischen Partei Italiens bei. Beide versuchen sich schließlich gemeinsam als Nietzsche-Übersetzer und -Herausgeber. Im April 1961, kurz vor dem Mauerbau, fährt Montinari nach Weimar. Dort lagert der umfangreiche Nachlass Nietzsches. Aus den geplanten zwei Wochen werden Jahrzehnte.
In der DDR stand Nietzsche unter dem Bannfluch des Reaktionärs, er galt offiziell als Staatsfeind. Aber es war gerade die Ruhe hinter dem Eisernen Vorhang, die den beiden Italienern die Edition ermöglichte. „Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung“ ist ein passender Titel.
Die Editionswissenschaft genießt ja einen staubtrockenen Ruf: Da gilt es schwer leserliche Manuskripte zu entziffern, alternative Lesarten aufzuzeigen und einen umfangreichen Anhang zu produzieren. Philologie sei eher etwas für Philister, meinte schon Nietzsche selbst. Für Colli und Montinari hingegen verspricht der akribische Blick auf Nietzsches Gekrakel dem Philosophen gleichsam beim Denken zuzusehen, „der alte, voyeuristische Traum der Philologie“. Michel Foucault macht sich lustig über die „naive“ Absicht von Colli und Montinari, im Chaos des Weimarer Nachlasses den „eigentlichen“ Nietzsche freizulegen. Für Foucault, Gilles Deleuze und Jacques Derrida wird Nietzsche ja gerade zum Stammvater ihrer poststrukturalistischen Philosophie, die sich von Konzepten wie Autor und Werk verabschiedet.
Die buchstabengetreue Edition ist für Colli und Montinari aber die einzige Möglichkeit, Nietzsche vor ideologischer Vereinnahmung zu bewahren. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versuchten dies vor allem rechte Denker und nun eben die französischen Links-Nietzscheaner.
Felsch zieht hier eine Parallele zur frühen Aufklärung. Damals hatten Philologen versucht, durch ihre kritische Bibellektüre (des Originals und der oft fragwürdigen lateinischen Übersetzung) konfessionelle Streitigkeiten zu beenden. Der Rekurs auf die Quellen und ihre unvermeidliche Vieldeutigkeit sollte religiösem Fanatismus den Boden entziehen.
Ironischerweise werden Colli und Montinari schließlich zu den Nietzsche-Experten schlechthin, legen aber selbst keine eigene Interpretation seines Werks vor. Aber vielleicht ist ja gerade das konsequent.