

Verlockung für Christdemokraten
Margaretha Kopeinig in FALTER 39/2024 vom 27.09.2024 (S. 23)
Schon in der Zwischenkriegszeit kam es zum fatalen Zusammenspiel von politischem Katholizismus und rechtsradikalen Parteien. Heute sind die Konservativen wieder koalitionswillig. In Österreich ging ÖVP-Kanzler Wolfgang Schüssel im Jahr 2000 eine Regierung mit Haiders FPÖ ein. Ab 2017 profilierte sich Sebastian Kurz mit "skrupelloser Machtpolitik" in der Koalition mit den Blauen. Viktor Orbán preist seit Jahren sein autokratisches Regime als wahrhaft christdemokratisch an. Die Europäische Volkspartei sah jahrelang zu. Die "dunkle Seite der Christdemokratie" sei, so Fabio Wolkenstein, Professor an der Uni Wien, "die Geschichte einer autoritären Versuchung".
Die autoritäre Versuchung der Christdemokratien
Sieglinde Rosenberger in FALTER 25/2022 vom 24.06.2022 (S. 20)
Religion, die Dominanz des katholischen Christentums und die machtvolle Verbindung von staatlicher und religiöser Herrschaft, war in Europa ein zentraler Faktor bei der Herausbildung der politischen Parteiensysteme. Die Gegenspieler der Christdemokratien, die sozialdemokratischen Parteien, verlangten Säkularisierung und institutionelle Trennung von Kirche und Staat. Die Christdemokratie verstand sich nicht als Vorreiterin in Sachen individueller Freiheit und Emanzipation, sie stand vielmehr für ungleiche Gesellschaftsvorstellungen, für hierarchische Familien-und Geschlechterbeziehungen. Um symbolisch mit dem politischen Katholizismus der Christlich-Sozialen Partei der Zwischenkriegszeit zu brechen, mied in Österreich im Jahre 1945 die ÖVP zwar das C im Parteinamen, die gesellschaftspolitischen Positionen blieben aber über Jahrzehnte dem reaktionären Weltbild verhaftet. Dennoch, schreibt Fabio Wolkenstein in seinem neuen Buch, feierten nach 1945 die christdemokratischen Parteien an den Wahlurnen und in den Machtzentralen zahlreiche Siegeszüge.
Wolkenstein widmet sich den christdemokratischen Parteien und ihrem Verhältnis zur liberalen Demokratie. Genauer gesagt: Das Buch beschäftigt sich mit einem Parteientypus, der sich als christdemokratisch versteht bzw. so verstanden werden will, ohne jedoch notwendigerweise auch die christliche Soziallehre zu verinnerlichen. Die funktionale Dimension des Christentums überlagert bei zahlreichen Parteien die substanzielle.
Der Buchtitel "Die dunkle Seite der Christdemokratie" legt eine Art Abrechnung mit den demokratiepolitisch heiklen Seiten nahe. Diese Erwartung wird nicht ganz erfüllt. Wolkenstein setzt seine Analyse zwar in den Rahmen der Geschichte einer autoritären Versuchung. Konkret werden sowohl vergangene als auch aktuelle Entwicklungen in europäischen Ländern in den Blick genommen, die nicht zuletzt mit Referenz auf christliche Werte und Traditionen dabei sind, wesentliche Elemente der liberalen Demokratie zum Einsturz zu bringen. Ungarn ist das illustrative Beispiel. Die Erkenntniskraft des Buches liegt aber in der Wechselhaftigkeit einer Longue durée. Die europäische Christdemokratie entwickelte und praktizierte ihre dunklen Seiten, sie erfuhr und ermöglichte aber auch Reformund Demokratisierungsschübe. Das europäische Projekt gilt als das visionäre Projekt der "Väter" der Christdemokratie.
Das Buch wählt den Zugang auf die demokratischen und autoritären Versuchungen über die "großen" männlichen Repräsentanten der europäischen Christdemokratie -und tatsächlich spielten, abgesehen von Angela Merkel, Frauen an vorderster Front kaum eine Rolle. Die nicht selten bewundernden Positionen und Parteinahmen für autoritäre Regime und deren Diktatoren (z.B. Franco) untermauern die demokratiepolitisch problematische Ausrichtung.
Die sozial-und politikwissenschaftliche Forschung zeigte bislang wenig Interesse an der Christdemokratie. Die Bücherregale sind viel mehr gefüllt mit Literatur zu Populismus, konservative Parteien kommen dabei als verstärkende und normalisierende Kräfte in den Blick. Das angespannte Verhältnis zu Demokratie, Pluralismus und individuellen Rechten wurde bislang kaum systematisch untersucht. Das vorliegende Buch füllt dieses Vakuum. Eloquent geschrieben, beleuchtet es die Spannungslinien zwischen Demokratieentwicklung und Demokratiegefährdung -wobei Letzteres hier und heute die besondere Aufmerksamkeit verdient.