

Ein wagnerbegeisterter „Negro“ auf Forschungsreise in Nazi-Deutschland
Klaus Nüchtern in FALTER 42/2022 vom 21.10.2022 (S. 5)
"Die Wiener Fröhlichkeit, ihren Witz, ihr Pariser Flair gibt es immer noch. […] Bevor ich hierherkam, dachte ich, ein Zusammenschluss von Österreich und Deutschland wäre am Ende unvermeidlich. Heute bin ich da nicht mehr so sicher. Österreich hat eine eigene Persönlichkeit, die sich nicht so leicht vereinnahmen lässt.“
Das schreibt William Edward Burghardt Du Bois, wie er mit vollem Namen hieß, in seiner Kolumne vom 9. Jänner 1937. Davor hatte der Soziologe, Historiker, Publizist, Schriftsteller und Bürgerrechtler, der als erster Afroamerikaner in Harvard promovierte, Belgien und England bereist und sich mehrere Monate in Deutschland aufgehalten. Offizieller Anlass war ein Stipendium zum Zweck, die Berufsausbildung in der Industrie zu studieren – wovon er sich nach einem Besuch der Siemensstadt durchaus beeindruckt zeigt –; tatsächlich geht es in du Bois’ Berichten, die er für den Pittsburgh Courier, die zeitweise auflagenstärkste afroamerikanische Tageszeitung der USA, verfasste, um eine Auseinandersetzung mit dem „Rassenproblem“.
Dass die Kategorie der „Rasse“ wissenschaftlich längst als Mythos entlarvt wurde, weiß du Bois; der Rassismus aber sei damit längst noch nicht aus der Welt geschafft und das „Problem einer Gruppe, die wir aus sprachlicher Notwendigkeit eine Rasse nennen müssen und deren historische Bezeichnung ,Negro‘ lautet“ und letztendlich eine Angelegenheit „der farbigen und schwarzen Arbeiterklasse“.
Europa ist für den 1868 in Great Barrinton, Massachusetts „frei“ geborenen Nachfahren sowohl von Sklaven als auch von Sklavenhaltern immer auch die Kontrastfolie zur US-amerikanischen Heimat, die der während der McCarthy-Ära Gegängelte und als „ausländischer Agent“ Angeklagte 1961 Richtung Ghana verlässt, wo er 1963 im Alter von 95 Jahren verstirbt – einen Tag vor dem „Marsch auf Washington“, bei dem Martin Luther King seine berühmte Rede („I have a dream“) halten sollte. Der studierte Altphilologe und glühende Wagner-Bewunderer zeigt sich einem klassisch-humanistischen Bildungsideal verpflichtet und darob begeistert, dass jede größere deutsche Stadt über ein Theater und Opernhaus verfügt, wo man „das Beste aus Musik und Theater“ zu sehen bekomme und zwar „zum Preis eines Damen-Sommerhutes für die Spielzeit“.
Auch werde man als Person of Color – sofern man über „gute Manieren“ verfüge – stets unvoreingenommen und höflich, allenfalls mit freundlich Neugier behandelt; wenngleich der durchschnittliche Europäer, wie du Bois im Zusammenhang mit den Olympischen Spiele in Berlin sarkastisch anmerkt, davon ausgehe, „die Hauptbeschäftigung schwarzer Amerikaner bestehe darin, sich lynchen zu lassen“.
Der Antisemitismus der Nazis entgeht dem Europareisenden freilich nicht und gilt ihm als „Angriff auf die Zivilisation, vergleichbar lediglich mit den Schrecken der spanischen Inquisition und des afrikanischen Sklavenhandels“. Womit du Bois’ Beobachtungen, wie Herausgeber Oliver Lubrich in dem mustergültig edierten und kommentierten Band im Nachwort anmerkt, direkt auf den „Zweiten Historikerstreit“ der Gegenwart verweist, die Frage nämlich, ob die Shoa einzigartig oder ihrerseits Teil einer globalen Kolonialgeschichte sei.
Die Erfahrungen von Schwarzen und Juden begreift du Bois, in den Worten Lubrichs, als „vergleichbar, aber nicht gleich“. Seine Kolumnen aus den Jahren 1936/37 müssen heute selbstverständlich historisch gelesen werden. Aus der Distanz wirkt sein Glaube an die Macht der Bildung vielleicht etwas naiv, seine Auffassung, dass Nazi-Deutschland und die Sowjetunion als „die beiden größten sozialistischen Staaten der modernen Welt“ zu gelten hätten, befremdlich. Abgesehen davon aber erweisen sich du Bois’ Beobachtungen und Analysen durchwegs als hellsichtig und präzise; etwa wenn er die Bedeutung des Rundfunks für die Verbreitung der Nazi-Ideologie betont und Propaganda generell als „[d]ie größte Erfindung des Weltkriegs“ bezeichnet – womit naturgemäß der Erste gemeint ist.