

Vom ewigen Rätsel der Zeit
André Behr in FALTER 42/2022 vom 21.10.2022 (S. 48)
Zu Beginn seines Buchs erinnert sich Guido Tonelli an seinen Großvater Emilio: wie dieser einst auf seinem kleinen Ackerstück nahe Florenz in Lo Scasso gerade am Umgraben war, als früh am Morgen das Licht plötzlich schwächer und es dunkel wurde. Sein Opa sei auf die Knie gesunken, in Tränen ausgebrochen und habe gebetet. „Das ist das Ende der Welt“, dachte er. Wie vielen Menschen vor und auch nach ihm war ihm nicht bewusst gewesen, dass es so etwas wie eine Sonnenfinsternis gibt.
Dieses sehr spezielle Naturphänomen, lernen wir heute in der Schule, können wir beobachten, falls wir uns bei Neumond im Kernschatten des Mondes befinden, wenn der auf seiner Umlaufbahn über uns gerade die Sonne verdeckt. Tonelli verwendet die Sonnenfinsternis als Einstieg in seine sehr inhaltsreiche Schilderung des Phänomens „Zeit“.
Der 1950 in einer kleinen Gemeinde der Toskana geborene Guido Tonelli studierte und lehrte an der Universität von Pisa Physik, er war am Auf- und Ausbau des 2008 in Betrieb genommenen Teilchenbeschleunigers Large Hadron Collider am Genfer Forschungsinstitut Cern beteiligt. 2012 erhielt er zusammen mit der CMS Collaboration, die Mitglieder der Teilchenphysik-Community aus der ganzen Welt zusammenbringt, den Special Fundamental Physics Prize für die Entdeckung des Higgs-Bosons, einem zentralen Baustein des Standardmodells der Teilchenphysik.
Als Autor allgemein verständlicher Bücher bekannt wurde der italienische Professor 2020 mit „Die Geschichte des Universums in sieben Tagen“. Jetzt nimmt er uns in „Chronos“ auf eine Reise zu den Ursprüngen der Zeit mit. Dabei dient ihm als Metapher der Gott desselben Namens, der in der griechischen Mythologie als Personifizierung der Zeit galt. Schon in der Antike wurde er oft mit dem Titanen Kronos gleichgesetzt, dem Sohn des Uranos und der Gaia, der die eigenen Kinder fraß.
Tonelli diskutiert, ob wir das unaufhaltsame Voranschreiten der Zeit jemals zum Stillstand bringen können, ob sich der sogenannte Zeitpfeil umdrehen lässt und ob die Zeit tatsächlich eine eigene Existenz hat – oder ob sie lediglich eine gewaltige Illusion ist.
Um in den Kern solcher Fragen vorzustoßen, vollzieht Guido Tonelli nach, wie unser Zeitsinn entstanden ist, und untersucht, wie sich Zeit für die materiellen Objekte um uns herum darstellt. Chronos zu stürzen sei ein immer wiederkehrender Traum der Menschheit, hält er fest und fragt: „Können wir uns von der Herrschaft des Chronos jemals befreien?“ Warum diese Antwort offen bleibt, erklärt er in seinem Buch lebendig und gut verständlich.