

Neuauflage des Totalitären
Julia Kospach in FALTER 12/2023 vom 24.03.2023 (S. 29)
Gerade als man dachte, China habe sich ein für alle Mal von einem der düsteren Kapitel seiner Geschichte distanziert – den Umerziehungslagern für „Konterrevolutionäre“, die die Zeit von Maos Kulturrevolution geprägt hatten –, tauchten um 2017 erste Berichte über die massenhafte Inhaftierung von Uiguren in der autonomen Region Xinjiang auf. Seither haben geleakte chinesische Dokumente, Recherchen von NGOs und Berichte von Uiguren im Ausland ein Bild der Vorgänge entstehen lassen, das der deutsche Sinologe, Journalist und langjährige China-Korrespondent Mathias Bölinger in seinem neuen Buch unmissverständlich so zusammenfasst: „Der Hightech-Gulag, den China in Xinjiang errichtet hat, ist die Neuauflage der totalitären Unterdrückungsmethoden des 20. Jahrhunderts mit den technischen Mitteln von heute.“
„Der Hightech-Gulag“ lautet folgerichtig auch der Titel von Bölingers Buch, für das er mit vielen Augenzeugen über das gesprochen hat, was in Xinjiang passiert, seit das kommunistische Parteiestablishment unter Xi Jinping seine Politik der gewaltsamen Assimilierung ethnischer Minderheiten beschlossen hat, darunter die muslimischen Turkvölker Xinjiangs. Innerhalb kürzester Zeit, so schildert Bölinger, begann die Han-chinesische Parteiverwaltung von Xinjiang ab 2016 die Region nicht nur mit einem Netz von Gefängnissen und Umerziehungslagern zu überziehen, sondern auch „mit einem dystopischen Überwachungsapparat“, dessen Maßnahmen bis ins Innerste des Privaten reichen: flächendeckende Straßenkameras, Auslesen von Mobiltelefonen, elektronische Erkennungssysteme an Wohnanlagen, Gesichtserkennung, unzählige Checkpoints, Fingerabdruck-, Augenscan- und Stimmprobenerfassung und ein geradezu lückenloses Parteikader-Kontroll- und Spitzelsystem.
Die Terrorbürokratie der Partei, der ethnische Minderheiten zunehmend als Schwachpunkte eines Han-chinesisch dominierten Nationalismus gelten, regiert willkürlich. Religiosität ist ihr ebenso verdächtig und Verhaftungsgrund wie das Beantragen eines Passes, zu hoher Stromverbrauch oder zu viel Besuch. Aus „Deradikalisierungs“- und Umerziehungslagern, in denen Uiguren und andere „vertrauensunwürdige“ Angehörige von Minderheiten durch Mandarin-Kurse und Parteipropaganda auf Linie gebracht werden sollen, werden rasch Massen-Gefangenenlager mit Gewaltexzessen, Folter, Vergewaltigung und Hunger. Nach Schätzungen waren seit 2017 zwischen sieben und 15 Prozent der Erwachsenen in Xinjiang inhaftiert.
Bölinger skizziert nicht nur detailreich die Orwell’sche Logik der paranoiden chinesischen Parteipolitik, er zeichnet auch die Vorgeschichte all dessen sehr genau nach, vom Kaiserreich über die wechselvollen Jahre der chinesischen Republik bis zur Machtübernahme der Kommunisten 1949 und der Ära Xi Jinping: Es ist die Geschichte einer langsamen Radikalisierung des Han-chinesischen Parteiapparats gegenüber den Minderheiten des Landes, die in den Massenverhaftungen der letzten Jahren gipfelte.